Das Pfarrhaus und sein Gönner Max Eugen Noelle

Das Pfarrhaus, das auf seiner Vorderseite mit einer Tafel (unten) an seinen Gönner, Max Eugen Noelle, bis heute erinnert. Foto: Stefanie Waske

Wer zur Geschichte des Pfarrhauses in Boffzen recherchiert, findet rasch zum Schriftsteller Wilhelm Raabe. Die Aufenthalte bei seiner mit dem Pfarrer Heinrich Julius Ludwig Tappe (Pfarrer in Boffzen von 1867-1878) verheirateten Schwägerin Mathilde inspirierten ihn zu seinem Roman Hastenbeck. Doch dies ist hier die falsche Spur. Das Pfarrhaus aus Raabes Erzählungen wurde abgerissen. Das neue, welches danach entstand, wäre ohne Max Eugen Noelle, Teilhaber der Glashütte Noelle & von Campe, nicht errichtet worden. Dem Pfarrhaus, das Raabe besuchte, attestierte der Pastor Heinrich Emil Schomburg (1871-1928) nämlich einen desolaten Zustand: „Der jammervolle Zustand desselben (des Pfarrhauses, SW) bewegte einem Mitglied des Gemeinderates, dem Fabrikanten Max E. Noelle, so das Herz, dass er in der nächsten Gemeinderatssitzung zinslose Darleihung des Baukapitals für einen schönen Pfarrhausneubau anbot.“ (2) Später habe dieser auf die Rückzahlung verzichtet. (3)

Porträt von Max Eugen Noelle Foto: Privatsammlung Stephan Brandt

Max Eugen Noelles Engagement war gewiss motiviert von seinem gelebten protestantischen Glauben. (4) Pfarrer Schomburg erinnerte sich an dessen privaten Bibelkreis: „Ferner wird hier erwähnt, daß auf der Hütte im Hause des Fabrikbesitzers Max E. Noelle ein kleiner Gemeinschaftskreis sich zusammen fand, um unter Gesang, Gebet und Schriftbetrachtung andächtig zu sein. Die Versammlungen fanden zusätzlich allsonntäglich, des Nachmittags, dann allmonatlich statt. Sektenmäßiges hatte diese Bewegung nicht. Es war vielmehr eine Gemeinschaft solcher, die neben den kirchlichen Gottesdiensten noch andere erbauliche Versammlungen begehrten. Das Dorf nahm an diesen Versammlungen fast gar nicht Anteil, es waren die Teilnehmer meist Bewohner der Hütte. Vom Jahre 1902 an wurden diese Versammlungen, zu denen allwöchentlich eine Bibelstunde kam, vom Ortsgeistlichen zum Teil geleitet, zum Teil besucht. Zugleich wurden sie verschmolzen mit den erbaulichen Veranstaltungen des Kirchlichen Blau, Kreuz=Vereins (Blaukreuzlers-Vereins, SW), den der Ortsgeistliche leitete.“ (5) Dieses Zitat spiegelt deutlich das religiöse Interesse von Max Eugen Noelle wider – detailliertes Studium der Bibel, Unterstützung der Alkohol-Abstinenzlervereinigung Blaukreuzler und Einbindung der Glasarbeiter in den Glauben. Seine Ehefrau Elisabeth, eine gebürtige Pfarrerstochter, dürfte ihn dabei unterstützt haben. (6) Dass Max Eugen Noelle auch in der Glashütte gegen Alkoholkonsum vorging, belegen seine Aufzeichnungen: „Brantweingenuß während der Arbeit wurde verboten und anstatt des Einsetzebrantweins erhielten die Arbeiter den doppelten Betrag in bar ausgezahlt“. (7) Seitdem gab es (Ersatz)-Kaffee und Mineralwasser für die Glasmacher. Auf die Abstinenzlervereinigung Blaukreuzler geht auch der Vorgänger von Schomburg, Pfarrer Tappe, in seinen Aufzeichnungen ein. Auf Grund der dazu angebotenen Abende – vermutlich mit Max Eugen Noelle – seien „sowohl der Bauer wie der Industriearbeiter vom regsten kirchlichen Interesse beseelt“ (8).

Bauplan mit nachträglichen Korrekturen, Foto: Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden

Als der Neubau des Pfarrhauses anstand, beschrieb Pfarrer Schomburg einen „Kampf zwischen Industrie und Landwirtschaft“ (9) im Ort. Der Landwirt schaue auf den zugezogenen „Gläseker“ (10) – also den Glasmacher – herab. Dabei seien beide aufeinander angewiesen: Die Glasmacher bräuchten die landwirtschaftlichen Produkte der Bauern, die Landwirte deren Hilfe bei der Ernte. Der Pfarrer beschrieb jedoch ebenso, dass die Lebensbereiche begännen, sich zu überlappen: Mancher Landwirt habe Arbeit bei den Glashütten angenommen, Glasmacher hätten Häuser gebaut mit Garten- und Viehwirtschaft. (11) Dass Schomburg solche Beobachtungen registrierte, verwundert nicht. Er wirkte im Sinne des nationalkonservativen Sozialreformers Heinrich Sohnrey (1895-1948) (12) in Boffzen in der ländlichen Wohlfahrt und Heimatpflege.(13) Im November 1927 wurde er dann für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei als Mitglied in den Landtag des Freistaates Braunschweig gewählt.(14) Mit dem Literaten Sohnrey verband Schomburg zudem sein Engagement für die vor dem Ersten Weltkrieg einsetzende Wandervogelbewegung, die auch sein Bruder Elias Hugo (1880-1976), Lehrer in Lüdenscheid (15), teilte.

Evangelische Erlöser-Kirche in Boffzen, erbaut 1730-37, mit Blick auf den Kronleuchter, der von der Glashütte Rottmünde 1858 gestiftet wurde. (1) Foto: Privatsammlung Stephan Brandt

All dies mag illustrieren, in welcher geistigen Atmosphäre das neue Pfarrhaus entstand, und aus welchen Gründen Max Eugen Noelle den Bau unterstützte. Katholiken gab es übrigens wenige: In „Boffzen (Glashütte)“ (16) wurden 1896 61 bei 1194 Einwohnern gezählt. Mit dem Architekten, dem Regierungsbaumeister a.D. Otto Winckler aus Bethel (17), wurde für den Neubau ein Mann mit kirchlichem Bezug gewählt – nämlich zu den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld. Damals arbeitete Winckler als Stellvertreter des dortigen Leiters der Bauabteilung der Bodelschwinghschen Stiftungen in Gadderbaum, dem Architekten Karl Siebold (1854-1937), dessen Ideen des Kleinwohnungswesens für die Glasarbeiter-Siedlung in der Steinbreite Vorbild waren. Zusammen entwarfen die Architekten zeitgleich zum Pfarrhaus in Boffzen die evangelisch-reformierte Kirche und das Pfarrhaus in Helpup, einem Ortsteil von Oerlinghausen. Letzteres hat auffallende Ähnlichkeit mit dem Gebäude in Boffzen – die Kombination aus Natursteinmauerwerk und aufgesetztem Fachwerk sowie zwei unterschiedliche Fensterformen, einmal mit Rundbögen, einmal rechteckig.

Ein ähnlicher Entwurf wie beim Pfarrhaus in Boffzen:Das Pfarrhaus in Helpup. Foto: Nikater, Public domain, via Wikimedia Commons

Doch die Pläne des Bauamtes aus Bethel mussten für Boffzen mehrfach überarbeitet werden, weil das herzogliche Konsistorium Einwände hatte: Die Aborte – die Toiletten – könnten nicht innerhalb des Pfarrhauses liegen, da Boffzen noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, ein Abtransport der Fäkalien somit nicht gewährleistet sei. Es empfahl, diese außerhalb des Hauses einzurichten. Zudem hielten sie die zahlreichen Öfen in fast jedem Wohn- und Schlafraum für unwirtschaftlich. Und das Konsistorium sorgte sich bei der vorgesehenen Räucherkammer im ersten Geschoss um die Brandsicherheit. (18) Daher wurde nachgebessert und schließlich alles genehmigt. Max Eugen Noelle war eines von drei Mitgliedern der Ortsbau-Kommission neben dem Ortvorsteher Friedrich Tappe (1904-1919). (19)
Das Pfarrhaus sollte sowohl dem kirchlichen wie dem profanen bürgerlichen Leben des Pfarrers mit seiner Familie dienen. Die Pläne waren großzügig: 40 Zimmer über drei Etagen listete der Bauantrag auf, wobei die Zählung auch Keller- und Abstellräume umfasste. Im Erdgeschoss bildete der Gemeindesaal das Herzstück. (20) Er bot laut Zeichnung Platz für 77 Personen in festen Bankreihen. Die Bauunterlagen zeigen, dass vor allem die Konfirmanden den Raum nutzen sollten. Ebenso befanden sich im Erdgeschoss die Räume, die der Pfarrer zu seinem öffentlichen Leben nutzte: eine Küche, ein Studierzimmer zum Schreiben der Predigten, sowie ein großes Wohn- und Esszimmer. Darüber, im ersten Geschoss lagen die privaten Räume – die Schlafzimmer für Eltern, Kinder, das Hausmädchen und Gäste (Fremdenzimmer). Sie hatten ein Bad mit Badewanne zur Verfügung. Dach und Keller waren vor allem für die Hauswirtschaft vorgesehen: Sie enthielten einen Kohlen- und Gemüsekeller, eine Plättstube und eine Rumpelkammer.

Grundriss des Erdgeschoßes des Pfarrhauses, vorn der Saal für die Konfirmanden Foto: Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden

Die geplante Räucherkammer deutete schon an, dass Fleisch und Fisch regelmäßig haltbar gemacht wurden. Der Tisch im Pfarrhaus wurde mit eigenen Produkten bestückt: Der Bauantrag umfasste auch einen Stall für zwei Schweine und eine Kuh. (21) Am 12. Juli 1907 war der Rohbau des Pfarrhauses zur Abnahme fertig (22), am 12. Oktober 1907 das Stallgebäude. (23) Am 21. November 1907 konnte Schomburg mit seiner Familie schließlich einziehen. Doch schon nach einem Jahr verließ der Pfarrer Boffzen und wurde erster Prediger an der St. Magnikirche in Braunschweig. (24) Zum Schluss seiner Erinnerungen bemerkte er: „Es soll noch hinzugefügt werden, daß im Konfirmandensaal an der Ostseite ein Meter vom Erdboden an der Nordseite des Saales eine blaue Flasche eingemauert ist, […] die Nachrichten aus Boffzen enthält.“ (25) Sie wird wohl von Noelle & von Campe hergestellt worden sein.

Das Pfarrhaus von der Weserseite im Herbst 2020 und der verschneite Pfarrgarten mit dem Wilhelm-Raabe-Tisch 2016. Fotos: Stefanie Waske

Stefanie Waske, 20. Oktober 2020

(1) Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, in: Chronik der Gemeinde Boffzen, Hrsg. Ulrich Ammermann, Beverungen 2006, 141.
(2) Ereignisse, Ein Ueberblick über die kirchlichen und weltlichen Verhältnisse der Gemeinde Boffzen bis zum Jahre 1907, 12, zur Verfügung gestellt von Christiane Nadjé-Wirth.
(3) Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, 144.
(4) Ein weiterer Hinweis ist, dass Max Eugen Noelle das Buch von Andrew Jukes, Der zweite Tod und die Wiederbringung aller Dinge mit einigen einleitenden Bemerkungen über die Natur und Inspiration der heiligen Schrift: Brief an einen Freund, S.I. 1912 ins Deutsche übersetzt.
(5) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, Ein Ueberblick über die kirchlichen und weltlichen Verhältnisse, 5ff.
(6) Ihr Vater war Heinrich Julius Carl Ludwig Schmahlstieg (1867-1913) aus Burgdorf bei Börßum, u.a. Begründer der Grotjahn-Stiftung zu Schladen im Harz 1851. Als Nichte zweiten Grades wurde Elisabeth Schmahlstieg nach dem frühen Tod ihrer Eltern von Ferdinand Koch und seiner Frau Mathilde aufgenommen, deren Familie die Spiegelglashütte Grünenplan übernommen hatte.
(7) Geschichte der Brückfelder Glashütte von Max Eugen Noelle, Transkription des handschriftlichen Originals: Dr. Stephan Brandt, Berlin, Stand 2017, 2.
(8) Zitiert nach: Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, 144.
(9) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, 1.
(10) Ebenda, 3.
(11) Ebenda, 3ff.
(12) Sohnreys Schriften enthalten auch fremdenfeindliche und rassistische Passagen, weshalb die Heinrich-Sohnrey-Schule in Boffzen 2012 in Grundschule am Sollingtor umbenannt wurde.
(13) Kirchengemeindelexikon, 1800 Geschichten, https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/boffzen/ zuletzt abgerufen 19.10.2020.
(14) https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Mitglieder_des_Landtages_(Freistaat_Braunschweig)_(5._Wahlperiode) zuletzt abgerufen 19.10.2020.
(15) S. Aufbruch der Jugend, Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2013, 230.
(16) Die katholische Bevölkerung im Herzogtum Braunschweig, in: Allgemeines statistisches Archiv 4, 1896, 563.
(17) Alle Entwürfe zum Pfarrhause tragen seine Unterschrift, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(18) Brief des Herzogl. Braunschw. Lüneb. Konsistoriums an Pastor Schomburg, 28.02.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(19) Chronik der Gemeinde Boffzen, Hrsg. Ulrich Ammermann, Beverungen 2006, 107.
(20) Entwurf zu einem Pfarrhause zu Boffzen, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(21) Bauantrag Pfarrhaus nebst Stallgebäude 1906/07, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(22) Brief Pfarrer Schomburg an die Herzogliche Kreisdirektion, 12.7.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(23) Brief Pfarrer Schomburg an die Herzogliche Kreisdirektion, 12.10.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(24) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, 14.
(25) Ebenda, 14f.

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