Gläser für Klebekünstler

Werbung von 1938 mit dem Glas-Steg an der Seite. Foto: Archiv Freundeskreis Glas

Ein rundes Glas, ähnlich wie eines für Marmelade mit einem locker aufgesteckten Aluminiumdeckel – was mag das sein? Die im Laufe der Jahrzehnte vergilbte Schrift verrät: Ein Behältnis für Klebstoff der Marke Pelikan, hergestellt von den Günther Wagner Pelikan-Werken Hannover. Ein selten gewordener Fund auf Flohmärkten oder in Online-Börsen, wie alle Verbrauchsartikel – sie landen geleert meist im Müll. Die eher spärliche Überlieferung von Akten der Glashütte Noelle & von Campe verrät: Solche Gläser wurden auch in Boffzen hergestellt.

Warum ist dieses Glas Wert, gesammelt zu werden? Weil es etwas Besonderes ist im Alltäglichen. Weil es von technischen Fertigkeiten der Glasmacher berichtet. Und weil es zeigt, wie Noelle & von Campe schon in den 1930er Jahren wichtige Markenartikel herstellte.

Dieses Glas wurde für die Sammlung des Freundeskreises Glas angekauft. Fotos: Stefanie Waske

Zunächst ein Blick auf das Glas: Wer den Deckel lüftet sieht, dass innen ein abgeteiltes Fach mit einem gläsernen Steg ist. Dort findet ein kleiner Pinsel Halt: Der hätte einst im Wasser gestanden, angefeuchtet ließ sich die weiße Klebepaste – eintrocknet durch Kälte oder lange Lagerung – wieder leicht verstreichen. Das kleine praktische Detail macht jedoch aus der einfachen Form eine komplizierte. Diese wurden noch von Hand in Metallformen gepresst, der Steg machte sie anfällig für Fehler. Wer das alte Glas in die Hand nimmt, stellt fest: Es ist recht schwer. Die Marke auf dem Deckel und dessen gerillter Rand verraten, dass das Glas zwischen Ende der 1930er bis Anfang der 1950er Jahre entstanden sein muss.[1] Kurzum, das Pelikanolglas steht für das Können der Glashütte Noelle & von Campe, auch spezielle Hohlglasprodukte anzufertigen in der Zeit des Übergangs zwischen handwerklicher Produktion und zunehmend automatisierter.

Wie lange die Geschäftsbeziehungen zwischen der Günter Wagner AG und Noelle & von Campe exakt bestanden, lässt sich der Korrespondenz nicht entnehmen. Gesichert ist diese durch die Akten ab 1935 bis in die Nachkriegszeit.[2]  

Frühe Werbeanzeigen für Pelikanol: (oben): Photographische Mitteilungen, 43/1906, S. 155, (unten links) Deutscher Camera-Almanach, 3/1907, S. 55 und Photographische Rundschau, 22/1908.

1904 brachten die Günther Wagner Pelikan-Werke den Kleber Pelikanol auf der Basis von Kartoffelstärke mit Mandelöl auf den Markt.[3] Der Verkaufskatalog 1913 zeigte verschiedene Verpackungen, je nach Anwendung – mal in der Tube oder Dose aus Metall, mal im Glas.[4] 1934 gab es Pelikanol auch in grün, orange und braun gemusterten Keramikdosen als Zierde für den Schreibtisch.[5] Später kamen Ausführungen aus Kunststoff hinzu, erst Bakelit, nach dem Zweiten Weltkrieg Polystyrol. Die Gläser, die Noelle & von Campe herstellte, deckten daher nur einen Teilbereich der Verpackungen ab.

Pelikanol in der Ausführung von 1913, damals noch mit mittigem Wasserbehälter. Foto: Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com)

Diese zielten von Beginn auf eine bestimmte Käufergruppe. Im Prospekt 1913 hieß es werbend: „Ein äußerst praktisches Glas für das Büro. Es hat einen eingebauten Wasserbehälter, welcher zur Aufnahme von Pinsel und Wasser dient. Das Wasser des Behälters verhütet das Eintrocknen der Pinselborsten und erhält das Pelikanol frisch und geschmeidig.“[6] Daher standen die Gläser auf den Schreibtischen in den Büros, sollten sowohl praktisch als auch dekorativ sein. Schon diese frühen Ausfertigungen der Gläser vor dem Ersten Weltkrieg enthielten einen abgetrennten Bereich, allerdings noch zentriert in der Mitte. Das Aufnehmen des Klebers mit dem Pinsel war daher etwas schwieriger.

Ob Noelle & von Campe bereits diese frühen Formen herstellte, ist ungewiss. Technisch wäre dies sicher möglich gewesen, da die Glashütte damals komplexe Pressformen nutzte und einzelne auch patentieren ließ. Der hier einschlägige Zeitraum der 1930er bis 1950er Jahre deckte jedoch eindeutig die Hochzeit von Pelikanol ab. Dieses nutzen nicht nur Büroangestellte, die Briefumschläge zuklebten, sondern auch Fotografen, die mit dem säurefreien Kleber ihre Bilder in den Fotoalben befestigten. Wer mit den Kindern bastelte und es sich leisten konnte, wählte Pelikanol. 1938 verkündete der Katalog der Marke Pelikan noch ganz andere Einsatzfelder: „Auch in der Lebens- und Genußmittel-Industrie findet Pelikanol zum Verschließen von Packungen aller Art, in der Stoff- und Bekleidungs-Industrie zum Aufkleben von Etiketten, Stoffmustern und dgl. Verwendung.“[7] Dafür gab es extra große Verpackungen bis neun Kilo in Eimern aus Metall.

Damals wurde der Kleber so bekannt, dass sein Name Teil des deutschen Wortschatzes wurde. Der Hannoveraner Dadaist und Künstler Kurt Schwitters, der Werbung für Pelikan entwarf, widmete ihm 1930 eine Collage.[8]

Werbung (1938) speziell für das Aufkleben von Fotografien. Der Kleber sollte „archivsicher“ sein, also zu keinen Farbveränderungen führen. Foto: Archiv Freundeskreis Glas

Was ist aber über die Herstellung der Pelikanol-Gläser in Boffzen bekannt? Für 1935 und 1936 lässt sich den Kundenbücher der Glashütte Noelle & von Campe entnehmen, dass die Günther Wagner Pelikan-Werke mehrfach bestellten.[9] Neben den Pelikanolgläsern fertigten die Glasmacher auch Wassergläser für die Aquarellmalerei. Diese waren ähnlich herausfordernd, da sie innen ebenfalls mit einem Steg unterteilt waren. Sie ließen sich nur manuell fertigen, nicht aber vollautomatisch pressen.[10] Die letzte überlieferte Bestellung bis Kriegsende stammt aus dem November 1943: 10.000 Wassergläser sollten nach Hannover gehen, „wie wiederholt von Ihnen geliefert“[11], wie es in der Bestellung heißt. Die Gläser waren damals kriegswichtig.[12]

Erste Nachkriegsbestellung von Pelikanol-Gläsern bei Noelle & von Campe. Foto: Freundeskreis Glas

Kurz nach Kriegsende setzte die Überlieferung wieder ein. Die erste Anfrage aus Hannover gen Boffzen kam bereits wenige Wochen nach dem Waffenstillstand. Vermutlich in der Hoffnung, dass die Glashütte wegen der abseitigen Lage kaum zerstört sein würde und schnell liefern könne. Ersteres traf zu, zweites nicht. Der Auftrag galt jedoch noch nicht den Pelikanolgläsern, verwies nur auf sie[13], sondern den schlichten Einheits-Verpackungsflaschen und Weithalsgläsern, in die beispielsweise Tinte in den Kriegsjahren abgefüllt wurde.[14] Die Gläser für den weißen Klebstoff bestellten die Günther Wagner Pelikan-Werke erstmals Ende Januar 1946: Preßstoffgläser für Pelikanol 970 und 990, insgesamt 30.000 Stück.[15] Die zweite Ausführung strich Noelle & von Campe, weil sie nur die Größe 970 anfertigen konnte.[16]

Die damaligen Geschäftsführer der Glashütte mussten ihren langjährigen Auftraggeber in Hannover jedoch immer wieder vertrösten: Erst fehlen Kohlen[17], Soda und Strom, dann die passenden Formen, schließlich die passenden Glasmacher. Ebenso musste die Glashütte andere Aufträge vorziehen, weil die Vorgaben der britischen Militärregierung sie zur Lieferung von Einkochgläsern verpflichteten.[18] Kurzum – die meisten Schreiben waren Vertröstungen, kündigten Teillieferungen an und waren vom gegenseitigen Verständnis für die schwierige Lage geprägt. Man half sich: So schickten die Pelikan-Werke Tinte, Füllfederhalter und Büromaterial nach Boffzen.[19] Noelle & von Campe half mit Einkochgläsern[20] und Lampenzylindern für Petroleumleuchten aus.[21]

Dass Noelle & von Campe kein unwichtiger Zulieferer war, zeigte auch der Besuch Klaus Beindorffs, Mitglied der Geschäftsführung der Günther Wagner Pelikan-Werke, mit seinem Einkäufer am 12. Juni 1946 in Boffzen.[22]

Auch in den 1950er Jahren ist Pelikanol weiterhin bei Fotografen gefragt, Foto: Jahrbuch, Das Hilfswerk 1945-1950, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1950, S. 156.

1948 sollte dann die Lieferung von Pelikanol-Gläser wieder Fahrt aufnehmen. In der Bestellung heißt es: „Diese Gläser lieferten Sie mir in der Vergangenheit laufend. Da ich demnächst auch für das Inland wieder Pelikanol verfüllen werde, erlaube ich mir die Anfrage, ob Sie in der Lage sind mir die notwendigen Gläser Nr. 970 und 990 wieder zur Verfügung zu stellen.“[23] Die Antwort aus Boffzen fiel zurückhaltend optimistisch aus: „Wir werden versuchen, diese Gläser einmal zu arbeiten und Sie erhalten in den nächsten Tagen Bescheid, wie die Dinge liegen. Wir haben nämlich während des Krieges unsere alten Presser verloren und wissen nicht wie die neuen Leute mit diesem Glas fertig werden.“[24] Der Auftrag wurde kurz darauf vom Auftraggeber selbst zurückgestellt, weil die Chemischen Werke der Günther Wagner Pelikan-Werke nicht die Rohstoffe für das Pelikanol erhielten.[25] Ende Oktober hatte sich die Lage geändert, der Einkäufer schrieb geradezu verzweifelt: „Um die Gläser befinde ich mich jetzt in großer Verlegenheit.“[26] Wenigstens 10.000 möge Noelle & von Campe auf den Weg bringen. Im Dezember fasste er nach: „Diese Gläser (Pelikanol 970, Anm. was) möchte ich jetzt wieder von Ihnen beziehen und erlaube mir daher die Anfrage, ob und in welchem Umfange Sie mir solche Preßgläser wieder zur Verfügung stellen können.“[27] Mit diesem Schreiben endet die Überlieferung.

Wie viele Pelikanol-Gläser aus Boffzen noch ihren Weg nach Hannover fanden, bleibt daher im Dunkeln. Sicher ist, die Kunststoffdosen setzen sich mehr und mehr durch, die Glasverpackung verschwand in den 1960er Jahren. Drei Jahrzehnte später endete dann auch die Geschichte des Klebstoffs. Für eine späte Würdigung sorgte die experimentelle Band „Einstürzende Neubauten“. Wie heißt es im Song Pelikanol aus dem Jahr 2000? „Nur zur Erinnerung – Bittermandel, Marzipan, Pelikanol“. Der Kleber habe gerochen, als ob man ihn essen könne.

Dieser Duft hat sich längst verflüchtigt, wer die alte Glasdose öffnet, nimmt einen schwachen Geruch wahr, der an Terpentin oder Farbe erinnert. Allein der Kauf von Coccoina, einem Klebstoff aus Italien, lässt erahnen, wie es einst nach Marzipan duftete, wenn in zahllosen Büros der Aluminiumdeckel der Pelikanolgläser angehoben wurden – von einem Glas hergestellt in Boffzen. Wie schreibt einer der Anbieter von Coccoina, Manufactum: „Der Dose entströmt ein angenehmer Duft nach Bittermandel, der ältere Benutzer an das entsprechende deutsche Produkt, das früher weitverbreitete „Pelikanol“, erinnern wird.“[28] Und schließt: „Besonders schön: Die Blechdose hat in der Mitte ein Röhrchen, in dem ein Pinsel zum Auftragen des Klebers steckt.“ Ganz genauso wie 1913… Da fehlt doch eigentlich noch ein passendes Glas aus Boffzen – oder etwa nicht?

Seit 1964 wird Pelikanol nur noch in Kunststoff-Dosen angeboten, Foto: Prospekt Pelikan 1964, S. 13, abrufbar hier.


[1] Das zeigt eine Durchsicht der Kataloge, die abrufbar sind unter: https://www.pelikan-collectibles.de/de/Pelikan/Kataloge/index.html.

[2] Dazu sind zwei Aktenbestände einschlägig, die dem Freundeskreis Glas vorliegen: Kundenbücher 1935/36, Schriftwechsel zwischen Noelle & von Campe und den Günther Wagner Pelikan-Werken zwischen 1943 und 1948.

[3] Heinz Schmidt-Bachem, Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland, Berlin/Boston 2011, S. 453.

[4] Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com).

[5] Pelikan Liste Nr. 60, abrufbar unter: https://www.pelikan-collectibles.com/de/Pelikan/Kataloge/1934/Pelikan-Liste-60.pdf, S. 15.

[6] Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com).

[7] Pelikan Hauptliste Nr. 70, abrufbar unter: Pelikan-Katalog-70.pdf (pelikan-collectibles.com), S. 192.

[8] Kurt Schwitters, Ohne Titel (Pelikanol), 1930, Collage, Leihgabe Land Niedersachsen, siehe: Detmar Schäfer: Pelikan, Die Marke, Hannover 2013, S. 104.

[9] Bestellungen Band 1: 14.12.1935, Wassergläser Pelikan, S. 144; 27.04.1936, Wassergläser Nr. 1000 und 1001, S. 302, Band 2: 9.04.1936, Pelikanolgläser Nr. 970, S. 427; 20.04.1936, Wassergläser, S. 460, Archiv Freundeskreis Glas.

[10] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 30.04.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[11] Schreiben Günther Wagner Pelikan-Werke an Noelle & vom Campe, 10.11.1943, Archiv Freundeskreis Glas.

[12] Zu Kriegsbeginn verzeichneten die Klebstoffe vermehrte Nachfrage, siehe: Annemone Christians, Tinte und Blech, eine Pilotstudie zu Fritz Beindorff (1860-1944) und den Günther Wagner Pelikan-Werken im Nationalsozialismus, Hannover 2017, S. 73.

[13] Schreiben von Pollmann und Pieper an Noelle & von Campe, 12.07.1945, Archiv Freundeskreis Glas.

[14] Christians, Tinte und Blech, S. 74.

[15] Auftrag Günther Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 29.01.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[16] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 11.02.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[17] Eduard Künzl, Schreiben an Firma Günther Wagner, 18.07.1945, Archiv Freundeskreis Glas.

[18] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 1.10.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[19] Siehe beispielsweise: Rechnung Günther Wagner Pelikan-Werke, 30.10.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[20] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 21.6.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[21] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 14.01.1947, Archiv Freundeskreis Glas.

[22] Schreiben Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 18.06.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[23] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 6.07.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[24] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan Werke, 26.07.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[25] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 11.08.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[26] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 26.10.1948, Archiv Freudeskreis Glas.

[27] Schreiben Günther Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 29.12.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[28] Manufactum, abrufbar unter: https://www.manufactum.de/papierkleber-coccoina-a23354/.

Boffzer Glasstelen-Weg ist eröffnet

Das Ehepaar Bost erkundet den Glasstelen-Weg. Foto: Uwe Spiekermann

Mit Abstand, Alltagsmaske und im ganz kleinen Kreis – so übergab am Sonntag, 8. November 2020, der Freundeskreis Glas den Glasstelen-Weg an die Gemeinde Boffzen. Die geplante Eröffnungsveranstaltung musste wegen der Corona-Pandemie verändert werden: Statt mit einer Gruppenführung machten sich nun Interessierte in freier Zeitplanung auf den Weg. Am sonnigen Eröffnungstag kamen Einzelne, Paare und Familien, um die neuen Stelen und 150 Jahre Glasgeschichte zu entdecken.

Übergabe mit Abstand: Walter Waske (links), Tino Wenkel und Gudrun Rassmann. Foto: Stefanie Waske

Übergabe an die Gemeinde Boffzen

Der Vorsitzende des Freundeskreises Glas, Walter Waske, übergab am neuen „Platz der Glasgeschichte“ an der Bahnhofstraße die zwölf Stelen an die Bürgermeisterin Gudrun Rassmann und den Samtgemeinde-Bürgermeister Tino Wenkel. Waske betonte, dass mehrere Jahre Arbeit hinter dem Projekt stünden. Der Verein habe aus eigenen Mitteln 30.000 Euro eingebracht. Die Braunschweigische Stiftung, der Landschaftsverband Südniedersachsen und die Kulturstiftung des Landkreises Holzminden hätten 12.000 Euro beigesteuert. Dazu komme eine Privatspende von 3000 Euro. Waske dankte der Gemeinde Boffzen für die Unterstützung: Die Stelen hätten nun auf ihren Grundstücken einen Platz gefunden. Zudem freue er sich, dass vier Privatpersonen ihre Grundstücke für den Rundweg zur Verfügung gestellt hätten.   

Impressionen von der Übergabe des Glasstelen-Weges. Fotos: Stefanie Waske und Uwe Spiekermann

Rassmann und Wenkel würdigten beide das Engagement der Ehrenamtlichen des Freundeskreises Glas. Nach der Schließung des Glasmuseums sei die Industriegeschichte Boffzens nun im Ort zu entdecken, lobte Rassmann. Samtgemeinde-Bürgermeister Wenkel unterstrich, wie wichtig der Weg gerade für Touristen sei. Zudem hoffe er, dass die junge Generation begeistert werden könne, „in die Fußstapfen“ der Engagierten des Freundeskreises Glas zu treten.

Die Glasgeschichte Boffzens ist aber nicht nur vor Ort zu erwandern, sondern mit zusätzlichen Bildern und Texten auf der Webseite www.glas-in-boffzen.com in Ruhe nachzulesen. „Diese digitale Plattform für die Glasgeschichte soll in den kommenden Jahren regelmäßig erweitert und ergänzt werden“, sagte Waske. Dafür brauche es Unterstützer: Dokumente, Fotos oder Erinnerungen rund um Arbeit, Leben und Wohnen der Glasmacher würden noch gesucht. Der Verein freue sich über jeden neuen Hinweis unter freundeskreisglas@gmail.com oder Tel. 05271-950304 (Walter Waske).

Autorin: Stefanie Waske

Presseberichte:

NDR: Wilhelm Purk: Auf den Spuren der Glasindustrie in Boffzen

Neue Westfälische: Burkhard Battran: Wanderung durch 150 Jahre Glasgeschichte

Wie Preßseidel in der Boffzener Georgshütte entstanden

Große Auswahl: Teil des Glas-Sortiments der Georgshütte ab. Im undatierten Musterbuch werden sie als „Preß-Seidel in schwerer Ausführung“ bezeichnet: „205/206: Deutsch Pilsener, 207: Kugel-Seidel, 208: Ernst-Seidel, 209: Pilsener Seidel, 210: Walzen-Seidel, 211: Prismen-Seidel, 212: Tübinger Kugel-Seidel, 213: amerikanischer Seidel, 214: amerikanischer Seidel mit Schild“ Foto: Archiv Glasmuseum Boffzen

Jede Glashütte braucht Spezialitäten – die der Georgshütte waren viele Jahre lang Bierseidel. Diese gewannen bereits 1877 eine Preismedaille der Gewerbe-Ausstellung in Braunschweig. Ihre Hochzeit waren die 1950er und 1960er Jahre – wo diese Trinkgläser für Brauereien von Flensburg bis nach Garmisch bestellt wurden. Einige Seidel muteten wuchtig an: Der – vor allem männliche – Biertrinker schätzte ein robustes Gefäß mit großem Inhalt.
Aber wie wurde ein solches Bierglas hergestellt? Bei den Seideln handelte es sich um Pressglas. Sie erhielten ihre Form mit Hilfe einer Presse – anders als Gläser, die von per Mund oder mit Hilfe einer Maschine geblasen wurden. Der Vorteil des Pressens war, dass sich robuste, schwere Gläser in größerer Stückzahl mit exakt denselben Abmessungen herstellen ließen. Ein mundgeblasenes Glas hingegen war nie derart gleichmäßig, zeigte immer auch die Fertigkeit des Glasmachers. Doch bei einem rustikalen Bierausschank in Kneipen, auf Festzelten oder in Brauereien war Glaskunst weniger von Bedeutung.
Ganz gleich, wie das Glas später verarbeitet wurde, mussten die Rohstoffe – vor allem Sand, Soda, Kalk, Feldspat – und recycelte Glasscherben zunächst bei bis zu 1600 Grad Celsius im Ofen zu einer zähflüssigen Masse schmelzen. Die geschmolzene Glasmasse stand dann in der sogenannten Arbeitswanne für die Herstellung zur Verfügung.

1: Karl Heinz Hoffmann hat einen Posten Glas aus dem Ofen entnommen. Foto: Detlef Knop

Detlef Knop, der 1959 ein Praktikum in der Georgshütte machte, schilderte in seinem Bericht den Beginn der Herstellung: „Wenn ein Fremder einmal in eine Glashütte kommt, so bleibt er bestimmt längere Zeit vor den hitzespeienden, glutigen Arbeitslöchern stehen und bewundert die Arbeiter, die in solcher Hitze arbeiten müssen. Dem ‚Anfänger‘, der das Glas aus der Wanne herausholt und in die Form hineintropfen läßt, läuft der Schweiß in Strömen am Gesicht und am Körper herunter. Sein Handwerkszeug ist eine Eisenstange, an deren Ende er eine Tonkugel befestigt hat. Die Größe der Tonkugel richtete sich nach dem jeweiligen Gegenstand, der verfertigt werden soll. Sollen Bierseidel oder Glasschalen hergestellt werden, so ist die Tonkugel dementsprechend groß, und wenn es Schnapsgläser werden sollen, so ist die Kugel eben kleiner.“ (1) Der Anfänger tauchte die Tonkugel in die zähflüssige Glasmasse in die Arbeitswanne ein, drehte den Stab in seinen Händen und entnahm so für den Pressseidel die passende Portion, siehe Abbildung 1 oben.

2+3: Solche Metallformen wurden für die Herstellung der Biergläser genutzt. Im Hintergrund sind die Markenzeichen der Brauereien, die jeweils in die Form eingesetzt wurden. Foto: Stefanie Waske

Dann ließ er das zähflüssige Glas langsam und vorsichtig in eine geöffnete Metallform laufen. Wie solche Formen aussehen, zeigen die Abbildung 2 und 3. Nun schnitt der nächste Glasmacher, der Presser, so viel von der Glas-Portion ab, wie gebraucht wurde, schloss die Form und stellte sie unter die Presse. Im nächsten Schritt musste er mit Hilfe eines langen Schwenkarms und mit sehr viel Muskelkraft einen Stempel, den Drücker, in die Glasmasse pressen. Die Glasmasse verteilte sich an den Wänden der Form, der Seidel nahm erstmals Gestalt an. Der Presser hielt einen Moment inne, damit das Glas später keine Spannungen aufbaute und löste den Schwenkarm. Der Rausnehmer öffnete daraufhin die Form und entnahm das noch heiße, geformte Glas mit einem Metallhaken. (2)

4: Ein Bierglas am sogenannten Hefteisen, hier als Demonstration im ehemaligen Glasmuseum Boffzen. 5: Die Verwärmtrommel, ein Gebläseofen, im ehemaligen Glasmuseum Boffzen. Fotos: Stefanie Waske

Der zukünftige Seidel wurde nun vom nächsten Glasmacher, dem Anhefter, mit einem Heft-Eisen, einem sehr heißen Stahlring, aufgenommen (Abbildung 4). Noch zeigte das Glas die Spuren des Pressens, wie Nähte und Unebenheiten, die noch verschwinden sollen. Es wurde daher mit dem Heft-Eisen in eine Verwärmtrommel gehalten und erneut erhitzt (Abbildung 5).

6: Fertigmacher Wilhelm Becker bearbeitet ein Bierglas mit der Zange. Foto: Detlef Knop

Auf das angewärmte Glas wartet nun der sogenannte Fertigmacher mit seinen Werkzeugen (Abbildung 6). Dieser saß auf einer Bank mit zwei Eisenarmen, auf denen er den angehefteten Seidel an seiner Stange hin- und herrollen und so mit seinen Werkzeugen die Pressnähte glätten konnte. Dann war das Glas geformt, mit einem leichten Schlag gegen das Hefteisen löste der Fertigmacher den Seidel. Es wartete der nächste Glasmacher, der Einträger, um es zur Kühlbahn zu tragen.

7: Lisa Becker entnimmt die Seidel aus dem Kühlofen, rechts im Bild Dessert- und Obstschalen. Foto: Detlef Knop

Die 20 Meter lange Kühlbahn ist im Grunde ein langgezogener Ofen mit einem Förderband aus engmaschigem Draht, dessen Temperatur zum Ende hin immer mehr abnimmt – daher spricht der Glasmacher vom „kalten Ende“ (Abbildung 7). Zu Beginn herrschen noch zwischen 500 und 600 Grad Celsius, am Ende 20 Grad Celsius. Nur wenn das Glas langsam auf Raumtemperatur abkühlt, entstehen in diesem keine Spannungen. Sonst würde es dem Biertrinker später beim Genuss zerspringen…

8: Die fertigen Bierseidel, hier mit Siebdrucken versehen. Foto: Stefanie Waske

Fertig? Nun, nicht ganz. Glasschleifer entfernten noch die letzten Spuren der Herstellung, etwa die Unebenheiten des Bodens. Zudem bekamen manche Seidel noch einen Siebdruck (Abbildung 8), einen Goldrand oder ähnliche Dekoration. Bis der Biertrinker zum Seidel greifen konnte, waren demnach viele Arbeitsschritte notwendig. Die Arbeiter wurden nach Akkord bezahlt, schafften in den 1950er und 1960er Jahren bis zu 1000 Seidel pro Tag. Eine harte kraftzehrende Arbeit, daran erinnern sich die ehemalige Mitarbeiter der Georgshütte, Dieter Sterzel und Willi Sporleder.

Stefanie Waske, 29. Oktober 2020


(1) Detlef Knop, Erschautes, Erlebtes, Erlesenes über die Glasherstellung in Boffzen, 22.1.1959, Archiv Freundeskreis Glas, 28f.
(2) Vergl. Dietrich Mauerhoff, Bierseidel aus Pressglas – aus Radeberg, Ottendorf-Okrilla, Schwepnitz und Kamenz, Pressglas-Korrespondenz 2007, Nr. 4, 254-256, und Dietrich Mauerhoff, Gepresste Biergläser aus sächsischen Glashütten, Pressglas-Korrespondenz 2013, Nr. 3, 1-11.

Das Pfarrhaus und sein Gönner Max Eugen Noelle

Das Pfarrhaus, das auf seiner Vorderseite mit einer Tafel (unten) an seinen Gönner, Max Eugen Noelle, bis heute erinnert. Foto: Stefanie Waske

Wer zur Geschichte des Pfarrhauses in Boffzen recherchiert, findet rasch zum Schriftsteller Wilhelm Raabe. Die Aufenthalte bei seiner mit dem Pfarrer Heinrich Julius Ludwig Tappe (Pfarrer in Boffzen von 1867-1878) verheirateten Schwägerin Mathilde inspirierten ihn zu seinem Roman Hastenbeck. Doch dies ist hier die falsche Spur. Das Pfarrhaus aus Raabes Erzählungen wurde abgerissen. Das neue, welches danach entstand, wäre ohne Max Eugen Noelle, Teilhaber der Glashütte Noelle & von Campe, nicht errichtet worden. Dem Pfarrhaus, das Raabe besuchte, attestierte der Pastor Heinrich Emil Schomburg (1871-1928) nämlich einen desolaten Zustand: „Der jammervolle Zustand desselben (des Pfarrhauses, SW) bewegte einem Mitglied des Gemeinderates, dem Fabrikanten Max E. Noelle, so das Herz, dass er in der nächsten Gemeinderatssitzung zinslose Darleihung des Baukapitals für einen schönen Pfarrhausneubau anbot.“ (2) Später habe dieser auf die Rückzahlung verzichtet. (3)

Porträt von Max Eugen Noelle Foto: Privatsammlung Stephan Brandt

Max Eugen Noelles Engagement war gewiss motiviert von seinem gelebten protestantischen Glauben. (4) Pfarrer Schomburg erinnerte sich an dessen privaten Bibelkreis: „Ferner wird hier erwähnt, daß auf der Hütte im Hause des Fabrikbesitzers Max E. Noelle ein kleiner Gemeinschaftskreis sich zusammen fand, um unter Gesang, Gebet und Schriftbetrachtung andächtig zu sein. Die Versammlungen fanden zusätzlich allsonntäglich, des Nachmittags, dann allmonatlich statt. Sektenmäßiges hatte diese Bewegung nicht. Es war vielmehr eine Gemeinschaft solcher, die neben den kirchlichen Gottesdiensten noch andere erbauliche Versammlungen begehrten. Das Dorf nahm an diesen Versammlungen fast gar nicht Anteil, es waren die Teilnehmer meist Bewohner der Hütte. Vom Jahre 1902 an wurden diese Versammlungen, zu denen allwöchentlich eine Bibelstunde kam, vom Ortsgeistlichen zum Teil geleitet, zum Teil besucht. Zugleich wurden sie verschmolzen mit den erbaulichen Veranstaltungen des Kirchlichen Blau, Kreuz=Vereins (Blaukreuzlers-Vereins, SW), den der Ortsgeistliche leitete.“ (5) Dieses Zitat spiegelt deutlich das religiöse Interesse von Max Eugen Noelle wider – detailliertes Studium der Bibel, Unterstützung der Alkohol-Abstinenzlervereinigung Blaukreuzler und Einbindung der Glasarbeiter in den Glauben. Seine Ehefrau Elisabeth, eine gebürtige Pfarrerstochter, dürfte ihn dabei unterstützt haben. (6) Dass Max Eugen Noelle auch in der Glashütte gegen Alkoholkonsum vorging, belegen seine Aufzeichnungen: „Brantweingenuß während der Arbeit wurde verboten und anstatt des Einsetzebrantweins erhielten die Arbeiter den doppelten Betrag in bar ausgezahlt“. (7) Seitdem gab es (Ersatz)-Kaffee und Mineralwasser für die Glasmacher. Auf die Abstinenzlervereinigung Blaukreuzler geht auch der Vorgänger von Schomburg, Pfarrer Tappe, in seinen Aufzeichnungen ein. Auf Grund der dazu angebotenen Abende – vermutlich mit Max Eugen Noelle – seien „sowohl der Bauer wie der Industriearbeiter vom regsten kirchlichen Interesse beseelt“ (8).

Bauplan mit nachträglichen Korrekturen, Foto: Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden

Als der Neubau des Pfarrhauses anstand, beschrieb Pfarrer Schomburg einen „Kampf zwischen Industrie und Landwirtschaft“ (9) im Ort. Der Landwirt schaue auf den zugezogenen „Gläseker“ (10) – also den Glasmacher – herab. Dabei seien beide aufeinander angewiesen: Die Glasmacher bräuchten die landwirtschaftlichen Produkte der Bauern, die Landwirte deren Hilfe bei der Ernte. Der Pfarrer beschrieb jedoch ebenso, dass die Lebensbereiche begännen, sich zu überlappen: Mancher Landwirt habe Arbeit bei den Glashütten angenommen, Glasmacher hätten Häuser gebaut mit Garten- und Viehwirtschaft. (11) Dass Schomburg solche Beobachtungen registrierte, verwundert nicht. Er wirkte im Sinne des nationalkonservativen Sozialreformers Heinrich Sohnrey (1895-1948) (12) in Boffzen in der ländlichen Wohlfahrt und Heimatpflege.(13) Im November 1927 wurde er dann für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei als Mitglied in den Landtag des Freistaates Braunschweig gewählt.(14) Mit dem Literaten Sohnrey verband Schomburg zudem sein Engagement für die vor dem Ersten Weltkrieg einsetzende Wandervogelbewegung, die auch sein Bruder Elias Hugo (1880-1976), Lehrer in Lüdenscheid (15), teilte.

Evangelische Erlöser-Kirche in Boffzen, erbaut 1730-37, mit Blick auf den Kronleuchter, der von der Glashütte Rottmünde 1858 gestiftet wurde. (1) Foto: Privatsammlung Stephan Brandt

All dies mag illustrieren, in welcher geistigen Atmosphäre das neue Pfarrhaus entstand, und aus welchen Gründen Max Eugen Noelle den Bau unterstützte. Katholiken gab es übrigens wenige: In „Boffzen (Glashütte)“ (16) wurden 1896 61 bei 1194 Einwohnern gezählt. Mit dem Architekten, dem Regierungsbaumeister a.D. Otto Winckler aus Bethel (17), wurde für den Neubau ein Mann mit kirchlichem Bezug gewählt – nämlich zu den von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel in Bielefeld. Damals arbeitete Winckler als Stellvertreter des dortigen Leiters der Bauabteilung der Bodelschwinghschen Stiftungen in Gadderbaum, dem Architekten Karl Siebold (1854-1937), dessen Ideen des Kleinwohnungswesens für die Glasarbeiter-Siedlung in der Steinbreite Vorbild waren. Zusammen entwarfen die Architekten zeitgleich zum Pfarrhaus in Boffzen die evangelisch-reformierte Kirche und das Pfarrhaus in Helpup, einem Ortsteil von Oerlinghausen. Letzteres hat auffallende Ähnlichkeit mit dem Gebäude in Boffzen – die Kombination aus Natursteinmauerwerk und aufgesetztem Fachwerk sowie zwei unterschiedliche Fensterformen, einmal mit Rundbögen, einmal rechteckig.

Ein ähnlicher Entwurf wie beim Pfarrhaus in Boffzen:Das Pfarrhaus in Helpup. Foto: Nikater, Public domain, via Wikimedia Commons

Doch die Pläne des Bauamtes aus Bethel mussten für Boffzen mehrfach überarbeitet werden, weil das herzogliche Konsistorium Einwände hatte: Die Aborte – die Toiletten – könnten nicht innerhalb des Pfarrhauses liegen, da Boffzen noch nicht an die Kanalisation angeschlossen, ein Abtransport der Fäkalien somit nicht gewährleistet sei. Es empfahl, diese außerhalb des Hauses einzurichten. Zudem hielten sie die zahlreichen Öfen in fast jedem Wohn- und Schlafraum für unwirtschaftlich. Und das Konsistorium sorgte sich bei der vorgesehenen Räucherkammer im ersten Geschoss um die Brandsicherheit. (18) Daher wurde nachgebessert und schließlich alles genehmigt. Max Eugen Noelle war eines von drei Mitgliedern der Ortsbau-Kommission neben dem Ortvorsteher Friedrich Tappe (1904-1919). (19)
Das Pfarrhaus sollte sowohl dem kirchlichen wie dem profanen bürgerlichen Leben des Pfarrers mit seiner Familie dienen. Die Pläne waren großzügig: 40 Zimmer über drei Etagen listete der Bauantrag auf, wobei die Zählung auch Keller- und Abstellräume umfasste. Im Erdgeschoss bildete der Gemeindesaal das Herzstück. (20) Er bot laut Zeichnung Platz für 77 Personen in festen Bankreihen. Die Bauunterlagen zeigen, dass vor allem die Konfirmanden den Raum nutzen sollten. Ebenso befanden sich im Erdgeschoss die Räume, die der Pfarrer zu seinem öffentlichen Leben nutzte: eine Küche, ein Studierzimmer zum Schreiben der Predigten, sowie ein großes Wohn- und Esszimmer. Darüber, im ersten Geschoss lagen die privaten Räume – die Schlafzimmer für Eltern, Kinder, das Hausmädchen und Gäste (Fremdenzimmer). Sie hatten ein Bad mit Badewanne zur Verfügung. Dach und Keller waren vor allem für die Hauswirtschaft vorgesehen: Sie enthielten einen Kohlen- und Gemüsekeller, eine Plättstube und eine Rumpelkammer.

Grundriss des Erdgeschoßes des Pfarrhauses, vorn der Saal für die Konfirmanden Foto: Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden

Die geplante Räucherkammer deutete schon an, dass Fleisch und Fisch regelmäßig haltbar gemacht wurden. Der Tisch im Pfarrhaus wurde mit eigenen Produkten bestückt: Der Bauantrag umfasste auch einen Stall für zwei Schweine und eine Kuh. (21) Am 12. Juli 1907 war der Rohbau des Pfarrhauses zur Abnahme fertig (22), am 12. Oktober 1907 das Stallgebäude. (23) Am 21. November 1907 konnte Schomburg mit seiner Familie schließlich einziehen. Doch schon nach einem Jahr verließ der Pfarrer Boffzen und wurde erster Prediger an der St. Magnikirche in Braunschweig. (24) Zum Schluss seiner Erinnerungen bemerkte er: „Es soll noch hinzugefügt werden, daß im Konfirmandensaal an der Ostseite ein Meter vom Erdboden an der Nordseite des Saales eine blaue Flasche eingemauert ist, […] die Nachrichten aus Boffzen enthält.“ (25) Sie wird wohl von Noelle & von Campe hergestellt worden sein.

Das Pfarrhaus von der Weserseite im Herbst 2020 und der verschneite Pfarrgarten mit dem Wilhelm-Raabe-Tisch 2016. Fotos: Stefanie Waske

Stefanie Waske, 20. Oktober 2020

(1) Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, in: Chronik der Gemeinde Boffzen, Hrsg. Ulrich Ammermann, Beverungen 2006, 141.
(2) Ereignisse, Ein Ueberblick über die kirchlichen und weltlichen Verhältnisse der Gemeinde Boffzen bis zum Jahre 1907, 12, zur Verfügung gestellt von Christiane Nadjé-Wirth.
(3) Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, 144.
(4) Ein weiterer Hinweis ist, dass Max Eugen Noelle das Buch von Andrew Jukes, Der zweite Tod und die Wiederbringung aller Dinge mit einigen einleitenden Bemerkungen über die Natur und Inspiration der heiligen Schrift: Brief an einen Freund, S.I. 1912 ins Deutsche übersetzt.
(5) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, Ein Ueberblick über die kirchlichen und weltlichen Verhältnisse, 5ff.
(6) Ihr Vater war Heinrich Julius Carl Ludwig Schmahlstieg (1867-1913) aus Burgdorf bei Börßum, u.a. Begründer der Grotjahn-Stiftung zu Schladen im Harz 1851. Als Nichte zweiten Grades wurde Elisabeth Schmahlstieg nach dem frühen Tod ihrer Eltern von Ferdinand Koch und seiner Frau Mathilde aufgenommen, deren Familie die Spiegelglashütte Grünenplan übernommen hatte.
(7) Geschichte der Brückfelder Glashütte von Max Eugen Noelle, Transkription des handschriftlichen Originals: Dr. Stephan Brandt, Berlin, Stand 2017, 2.
(8) Zitiert nach: Christiane Nadjé-Wirth, Geschichte der Religionsgemeinschaften, 144.
(9) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, 1.
(10) Ebenda, 3.
(11) Ebenda, 3ff.
(12) Sohnreys Schriften enthalten auch fremdenfeindliche und rassistische Passagen, weshalb die Heinrich-Sohnrey-Schule in Boffzen 2012 in Grundschule am Sollingtor umbenannt wurde.
(13) Kirchengemeindelexikon, 1800 Geschichten, https://kirchengemeindelexikon.de/einzelgemeinde/boffzen/ zuletzt abgerufen 19.10.2020.
(14) https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Mitglieder_des_Landtages_(Freistaat_Braunschweig)_(5._Wahlperiode) zuletzt abgerufen 19.10.2020.
(15) S. Aufbruch der Jugend, Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg 2013, 230.
(16) Die katholische Bevölkerung im Herzogtum Braunschweig, in: Allgemeines statistisches Archiv 4, 1896, 563.
(17) Alle Entwürfe zum Pfarrhause tragen seine Unterschrift, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(18) Brief des Herzogl. Braunschw. Lüneb. Konsistoriums an Pastor Schomburg, 28.02.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(19) Chronik der Gemeinde Boffzen, Hrsg. Ulrich Ammermann, Beverungen 2006, 107.
(20) Entwurf zu einem Pfarrhause zu Boffzen, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(21) Bauantrag Pfarrhaus nebst Stallgebäude 1906/07, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(22) Brief Pfarrer Schomburg an die Herzogliche Kreisdirektion, 12.7.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(23) Brief Pfarrer Schomburg an die Herzogliche Kreisdirektion, 12.10.1907, Bauakten Gemeinde Boffzen, Archiv des Landkreises Holzminden.
(24) Heinrich Emil Schomburg, Ereignisse, 14.
(25) Ebenda, 14f.