Gläser für Klebekünstler

Werbung von 1938 mit dem Glas-Steg an der Seite. Foto: Archiv Freundeskreis Glas

Ein rundes Glas, ähnlich wie eines für Marmelade mit einem locker aufgesteckten Aluminiumdeckel – was mag das sein? Die im Laufe der Jahrzehnte vergilbte Schrift verrät: Ein Behältnis für Klebstoff der Marke Pelikan, hergestellt von den Günther Wagner Pelikan-Werken Hannover. Ein selten gewordener Fund auf Flohmärkten oder in Online-Börsen, wie alle Verbrauchsartikel – sie landen geleert meist im Müll. Die eher spärliche Überlieferung von Akten der Glashütte Noelle & von Campe verrät: Solche Gläser wurden auch in Boffzen hergestellt.

Warum ist dieses Glas Wert, gesammelt zu werden? Weil es etwas Besonderes ist im Alltäglichen. Weil es von technischen Fertigkeiten der Glasmacher berichtet. Und weil es zeigt, wie Noelle & von Campe schon in den 1930er Jahren wichtige Markenartikel herstellte.

Dieses Glas wurde für die Sammlung des Freundeskreises Glas angekauft. Fotos: Stefanie Waske

Zunächst ein Blick auf das Glas: Wer den Deckel lüftet sieht, dass innen ein abgeteiltes Fach mit einem gläsernen Steg ist. Dort findet ein kleiner Pinsel Halt: Der hätte einst im Wasser gestanden, angefeuchtet ließ sich die weiße Klebepaste – eintrocknet durch Kälte oder lange Lagerung – wieder leicht verstreichen. Das kleine praktische Detail macht jedoch aus der einfachen Form eine komplizierte. Diese wurden noch von Hand in Metallformen gepresst, der Steg machte sie anfällig für Fehler. Wer das alte Glas in die Hand nimmt, stellt fest: Es ist recht schwer. Die Marke auf dem Deckel und dessen gerillter Rand verraten, dass das Glas zwischen Ende der 1930er bis Anfang der 1950er Jahre entstanden sein muss.[1] Kurzum, das Pelikanolglas steht für das Können der Glashütte Noelle & von Campe, auch spezielle Hohlglasprodukte anzufertigen in der Zeit des Übergangs zwischen handwerklicher Produktion und zunehmend automatisierter.

Wie lange die Geschäftsbeziehungen zwischen der Günter Wagner AG und Noelle & von Campe exakt bestanden, lässt sich der Korrespondenz nicht entnehmen. Gesichert ist diese durch die Akten ab 1935 bis in die Nachkriegszeit.[2]  

Frühe Werbeanzeigen für Pelikanol: (oben): Photographische Mitteilungen, 43/1906, S. 155, (unten links) Deutscher Camera-Almanach, 3/1907, S. 55 und Photographische Rundschau, 22/1908.

1904 brachten die Günther Wagner Pelikan-Werke den Kleber Pelikanol auf der Basis von Kartoffelstärke mit Mandelöl auf den Markt.[3] Der Verkaufskatalog 1913 zeigte verschiedene Verpackungen, je nach Anwendung – mal in der Tube oder Dose aus Metall, mal im Glas.[4] 1934 gab es Pelikanol auch in grün, orange und braun gemusterten Keramikdosen als Zierde für den Schreibtisch.[5] Später kamen Ausführungen aus Kunststoff hinzu, erst Bakelit, nach dem Zweiten Weltkrieg Polystyrol. Die Gläser, die Noelle & von Campe herstellte, deckten daher nur einen Teilbereich der Verpackungen ab.

Pelikanol in der Ausführung von 1913, damals noch mit mittigem Wasserbehälter. Foto: Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com)

Diese zielten von Beginn auf eine bestimmte Käufergruppe. Im Prospekt 1913 hieß es werbend: „Ein äußerst praktisches Glas für das Büro. Es hat einen eingebauten Wasserbehälter, welcher zur Aufnahme von Pinsel und Wasser dient. Das Wasser des Behälters verhütet das Eintrocknen der Pinselborsten und erhält das Pelikanol frisch und geschmeidig.“[6] Daher standen die Gläser auf den Schreibtischen in den Büros, sollten sowohl praktisch als auch dekorativ sein. Schon diese frühen Ausfertigungen der Gläser vor dem Ersten Weltkrieg enthielten einen abgetrennten Bereich, allerdings noch zentriert in der Mitte. Das Aufnehmen des Klebers mit dem Pinsel war daher etwas schwieriger.

Ob Noelle & von Campe bereits diese frühen Formen herstellte, ist ungewiss. Technisch wäre dies sicher möglich gewesen, da die Glashütte damals komplexe Pressformen nutzte und einzelne auch patentieren ließ. Der hier einschlägige Zeitraum der 1930er bis 1950er Jahre deckte jedoch eindeutig die Hochzeit von Pelikanol ab. Dieses nutzen nicht nur Büroangestellte, die Briefumschläge zuklebten, sondern auch Fotografen, die mit dem säurefreien Kleber ihre Bilder in den Fotoalben befestigten. Wer mit den Kindern bastelte und es sich leisten konnte, wählte Pelikanol. 1938 verkündete der Katalog der Marke Pelikan noch ganz andere Einsatzfelder: „Auch in der Lebens- und Genußmittel-Industrie findet Pelikanol zum Verschließen von Packungen aller Art, in der Stoff- und Bekleidungs-Industrie zum Aufkleben von Etiketten, Stoffmustern und dgl. Verwendung.“[7] Dafür gab es extra große Verpackungen bis neun Kilo in Eimern aus Metall.

Damals wurde der Kleber so bekannt, dass sein Name Teil des deutschen Wortschatzes wurde. Der Hannoveraner Dadaist und Künstler Kurt Schwitters, der Werbung für Pelikan entwarf, widmete ihm 1930 eine Collage.[8]

Werbung (1938) speziell für das Aufkleben von Fotografien. Der Kleber sollte „archivsicher“ sein, also zu keinen Farbveränderungen führen. Foto: Archiv Freundeskreis Glas

Was ist aber über die Herstellung der Pelikanol-Gläser in Boffzen bekannt? Für 1935 und 1936 lässt sich den Kundenbücher der Glashütte Noelle & von Campe entnehmen, dass die Günther Wagner Pelikan-Werke mehrfach bestellten.[9] Neben den Pelikanolgläsern fertigten die Glasmacher auch Wassergläser für die Aquarellmalerei. Diese waren ähnlich herausfordernd, da sie innen ebenfalls mit einem Steg unterteilt waren. Sie ließen sich nur manuell fertigen, nicht aber vollautomatisch pressen.[10] Die letzte überlieferte Bestellung bis Kriegsende stammt aus dem November 1943: 10.000 Wassergläser sollten nach Hannover gehen, „wie wiederholt von Ihnen geliefert“[11], wie es in der Bestellung heißt. Die Gläser waren damals kriegswichtig.[12]

Erste Nachkriegsbestellung von Pelikanol-Gläsern bei Noelle & von Campe. Foto: Freundeskreis Glas

Kurz nach Kriegsende setzte die Überlieferung wieder ein. Die erste Anfrage aus Hannover gen Boffzen kam bereits wenige Wochen nach dem Waffenstillstand. Vermutlich in der Hoffnung, dass die Glashütte wegen der abseitigen Lage kaum zerstört sein würde und schnell liefern könne. Ersteres traf zu, zweites nicht. Der Auftrag galt jedoch noch nicht den Pelikanolgläsern, verwies nur auf sie[13], sondern den schlichten Einheits-Verpackungsflaschen und Weithalsgläsern, in die beispielsweise Tinte in den Kriegsjahren abgefüllt wurde.[14] Die Gläser für den weißen Klebstoff bestellten die Günther Wagner Pelikan-Werke erstmals Ende Januar 1946: Preßstoffgläser für Pelikanol 970 und 990, insgesamt 30.000 Stück.[15] Die zweite Ausführung strich Noelle & von Campe, weil sie nur die Größe 970 anfertigen konnte.[16]

Die damaligen Geschäftsführer der Glashütte mussten ihren langjährigen Auftraggeber in Hannover jedoch immer wieder vertrösten: Erst fehlen Kohlen[17], Soda und Strom, dann die passenden Formen, schließlich die passenden Glasmacher. Ebenso musste die Glashütte andere Aufträge vorziehen, weil die Vorgaben der britischen Militärregierung sie zur Lieferung von Einkochgläsern verpflichteten.[18] Kurzum – die meisten Schreiben waren Vertröstungen, kündigten Teillieferungen an und waren vom gegenseitigen Verständnis für die schwierige Lage geprägt. Man half sich: So schickten die Pelikan-Werke Tinte, Füllfederhalter und Büromaterial nach Boffzen.[19] Noelle & von Campe half mit Einkochgläsern[20] und Lampenzylindern für Petroleumleuchten aus.[21]

Dass Noelle & von Campe kein unwichtiger Zulieferer war, zeigte auch der Besuch Klaus Beindorffs, Mitglied der Geschäftsführung der Günther Wagner Pelikan-Werke, mit seinem Einkäufer am 12. Juni 1946 in Boffzen.[22]

Auch in den 1950er Jahren ist Pelikanol weiterhin bei Fotografen gefragt, Foto: Jahrbuch, Das Hilfswerk 1945-1950, hg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart 1950, S. 156.

1948 sollte dann die Lieferung von Pelikanol-Gläser wieder Fahrt aufnehmen. In der Bestellung heißt es: „Diese Gläser lieferten Sie mir in der Vergangenheit laufend. Da ich demnächst auch für das Inland wieder Pelikanol verfüllen werde, erlaube ich mir die Anfrage, ob Sie in der Lage sind mir die notwendigen Gläser Nr. 970 und 990 wieder zur Verfügung zu stellen.“[23] Die Antwort aus Boffzen fiel zurückhaltend optimistisch aus: „Wir werden versuchen, diese Gläser einmal zu arbeiten und Sie erhalten in den nächsten Tagen Bescheid, wie die Dinge liegen. Wir haben nämlich während des Krieges unsere alten Presser verloren und wissen nicht wie die neuen Leute mit diesem Glas fertig werden.“[24] Der Auftrag wurde kurz darauf vom Auftraggeber selbst zurückgestellt, weil die Chemischen Werke der Günther Wagner Pelikan-Werke nicht die Rohstoffe für das Pelikanol erhielten.[25] Ende Oktober hatte sich die Lage geändert, der Einkäufer schrieb geradezu verzweifelt: „Um die Gläser befinde ich mich jetzt in großer Verlegenheit.“[26] Wenigstens 10.000 möge Noelle & von Campe auf den Weg bringen. Im Dezember fasste er nach: „Diese Gläser (Pelikanol 970, Anm. was) möchte ich jetzt wieder von Ihnen beziehen und erlaube mir daher die Anfrage, ob und in welchem Umfange Sie mir solche Preßgläser wieder zur Verfügung stellen können.“[27] Mit diesem Schreiben endet die Überlieferung.

Wie viele Pelikanol-Gläser aus Boffzen noch ihren Weg nach Hannover fanden, bleibt daher im Dunkeln. Sicher ist, die Kunststoffdosen setzen sich mehr und mehr durch, die Glasverpackung verschwand in den 1960er Jahren. Drei Jahrzehnte später endete dann auch die Geschichte des Klebstoffs. Für eine späte Würdigung sorgte die experimentelle Band „Einstürzende Neubauten“. Wie heißt es im Song Pelikanol aus dem Jahr 2000? „Nur zur Erinnerung – Bittermandel, Marzipan, Pelikanol“. Der Kleber habe gerochen, als ob man ihn essen könne.

Dieser Duft hat sich längst verflüchtigt, wer die alte Glasdose öffnet, nimmt einen schwachen Geruch wahr, der an Terpentin oder Farbe erinnert. Allein der Kauf von Coccoina, einem Klebstoff aus Italien, lässt erahnen, wie es einst nach Marzipan duftete, wenn in zahllosen Büros der Aluminiumdeckel der Pelikanolgläser angehoben wurden – von einem Glas hergestellt in Boffzen. Wie schreibt einer der Anbieter von Coccoina, Manufactum: „Der Dose entströmt ein angenehmer Duft nach Bittermandel, der ältere Benutzer an das entsprechende deutsche Produkt, das früher weitverbreitete „Pelikanol“, erinnern wird.“[28] Und schließt: „Besonders schön: Die Blechdose hat in der Mitte ein Röhrchen, in dem ein Pinsel zum Auftragen des Klebers steckt.“ Ganz genauso wie 1913… Da fehlt doch eigentlich noch ein passendes Glas aus Boffzen – oder etwa nicht?

Seit 1964 wird Pelikanol nur noch in Kunststoff-Dosen angeboten, Foto: Prospekt Pelikan 1964, S. 13, abrufbar hier.


[1] Das zeigt eine Durchsicht der Kataloge, die abrufbar sind unter: https://www.pelikan-collectibles.de/de/Pelikan/Kataloge/index.html.

[2] Dazu sind zwei Aktenbestände einschlägig, die dem Freundeskreis Glas vorliegen: Kundenbücher 1935/36, Schriftwechsel zwischen Noelle & von Campe und den Günther Wagner Pelikan-Werken zwischen 1943 und 1948.

[3] Heinz Schmidt-Bachem, Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland, Berlin/Boston 2011, S. 453.

[4] Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com).

[5] Pelikan Liste Nr. 60, abrufbar unter: https://www.pelikan-collectibles.com/de/Pelikan/Kataloge/1934/Pelikan-Liste-60.pdf, S. 15.

[6] Pelikan von 1838 bis 1913, Preisliste Nr. 30B1, abrufbar unter: 1913 (pelikan-collectibles.com).

[7] Pelikan Hauptliste Nr. 70, abrufbar unter: Pelikan-Katalog-70.pdf (pelikan-collectibles.com), S. 192.

[8] Kurt Schwitters, Ohne Titel (Pelikanol), 1930, Collage, Leihgabe Land Niedersachsen, siehe: Detmar Schäfer: Pelikan, Die Marke, Hannover 2013, S. 104.

[9] Bestellungen Band 1: 14.12.1935, Wassergläser Pelikan, S. 144; 27.04.1936, Wassergläser Nr. 1000 und 1001, S. 302, Band 2: 9.04.1936, Pelikanolgläser Nr. 970, S. 427; 20.04.1936, Wassergläser, S. 460, Archiv Freundeskreis Glas.

[10] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 30.04.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[11] Schreiben Günther Wagner Pelikan-Werke an Noelle & vom Campe, 10.11.1943, Archiv Freundeskreis Glas.

[12] Zu Kriegsbeginn verzeichneten die Klebstoffe vermehrte Nachfrage, siehe: Annemone Christians, Tinte und Blech, eine Pilotstudie zu Fritz Beindorff (1860-1944) und den Günther Wagner Pelikan-Werken im Nationalsozialismus, Hannover 2017, S. 73.

[13] Schreiben von Pollmann und Pieper an Noelle & von Campe, 12.07.1945, Archiv Freundeskreis Glas.

[14] Christians, Tinte und Blech, S. 74.

[15] Auftrag Günther Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 29.01.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[16] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 11.02.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[17] Eduard Künzl, Schreiben an Firma Günther Wagner, 18.07.1945, Archiv Freundeskreis Glas.

[18] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 1.10.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[19] Siehe beispielsweise: Rechnung Günther Wagner Pelikan-Werke, 30.10.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[20] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 21.6.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[21] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan-Werke, 14.01.1947, Archiv Freundeskreis Glas.

[22] Schreiben Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 18.06.1946, Archiv Freundeskreis Glas.

[23] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 6.07.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[24] Schreiben Noelle & von Campe an Günther Wagner Pelikan Werke, 26.07.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[25] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 11.08.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[26] Schreiben Günther Wagner an Noelle & von Campe, 26.10.1948, Archiv Freudeskreis Glas.

[27] Schreiben Günther Wagner Pelikan Werke an Noelle & von Campe, 29.12.1948, Archiv Freundeskreis Glas.

[28] Manufactum, abrufbar unter: https://www.manufactum.de/papierkleber-coccoina-a23354/.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s