Ein Versuch zur Heilung der Verwerfungen des Industriezeitalters – Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite als Reformprojekt vor dem Ersten Weltkrieg

Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite kommt unscheinbar daher. Fünfzehn Familien von Glasarbeitern der benachbarten Glashütte Noelle & von Campe fanden hier eine Heimstatt, lebten in einfachen Wohnhäusern aus Sollinger Sandstein. Und doch, die kleine Siedlung steht für etwas Großes: Sie war eine Antwort auf zentrale Probleme der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, ehe sich Europa im Ersten Weltkrieg zerfleischte. Diese Zeit war geprägt von vielfältigen Aufbrüchen in Kultur und Gesellschaft, geprägt aber auch vom Glauben an die Gestaltungskraft des Menschen: Im Mittelpunkt stand die soziale Frage, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Doch kaum weniger drängend waren die Verwerfungen zwischen Stadt und Land. Noch lebte die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Lande, doch die Wertschöpfung der Industrie hatte die der Landwirtschaft kurz vor 1900 überflügelt. Das rasche Städtewachstum hatte neue Machtstrukturen geschaffen, mit Metropolen als Gewerbe- und Kulturzentren, als Sitz von Parlamenten und Residenzen. Dies wurde nicht nur als Fortschritt, sondern als Bedrohung wahrgenommen, als Abkehr von ländlicher Schlichtheit und einer geordneten ständischen Welt, in der jeder seinen Platz hatte. Es galt daher, das Land zu stärken; und so stritt man um Maßnahmen gegen die Landflucht, um ländliche Wohlfahrtspflege, um die Grundlagen eines auskömmlichen und gedeihlichen Lebens auf dem vermeintlich gesünderen Lande. Eng damit verbunden war ein drittes drängendes Thema, die Wohnungsfrage. Mochten die öffentlichen Debatten auch vorrangig um die Großstädte mit ihrer Wohnungsnot und ihren konturlosen Mietskasernen kreisen, so lebte doch die Mehrzahl der damaligen Deutschen in Dörfern und Kleinstädten – und dort waren die Wohnverhältnisse häufig noch arger als im vermeintlichen Moloch der sich ausbreitenden Städte. Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite ist ohne diese großen Debatten nicht verständlich. Blicken wir also etwas genauer hin.

Soziale Frage, Stadt-Land-Verhältnis und die Wohnungsfrage

Boffzen war ein Industriedorf, in dem die sozialen Fragen der Zeit im Verhältnis von Glasarbeitern und Unternehmern, von Unternehmervillen und Arbeiterwohnungen nach der Jahrhundertwende deutlich zutage traten. Die beiden lokalen Glashütten – seit 1872 die Georgshütte G. Becker, seit 1874 die schon 1866 als Bartling & Co. gegründete Hohlglashütte Noelle & von Campe – hatten seit ihrer Gründung Wohnungen für ihre Arbeiter gebaut, mussten diese doch mit einem ordentlichen Angebot in das damalige Brückfeld bei Boffzen gelockt werden.

Lageplan der Arbeiterwohnhäuser bei Schmidt & Co. (später Noelle & von Campe) 1874 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Für die Glasarbeiter waren diese Wohnhäuser unabdingbar, nicht nur, weil im Boffzener Unterdorf kaum Wohnraum zur Verfügung stand. Gerade die bestbezahlten „Fertigmacher“ verstanden sich weniger als Arbeiter, gar Proletarier, sondern als Handwerker. Ihre Glaskunst wurde durch die leistungsfähigen Gasöfen zwar wesentlich beschleunigt, doch am Ende entschieden ihre Fertigkeiten über die Qualität des Glases und damit den Erfolg der Unternehmer. Entsprechend war ihr Lohn für den Solling gut auskömmlich, zumal im Vergleich zu Land- und Forstarbeitern. Die Glasarbeiter waren zugleich – anders als städtische Fabrikarbeiter – in das landwirtschaftliche Umfeld eingebunden, denn etwas Ackerland und Kleintierhaltung waren für sie üblich. Das erlaubte eine etwas bessere Ernährung, schuf zugleich Puffer für beschäftigungsarme, gar beschäftigungslose Zeiten.

Die Hüttenbesitzer unterstützten diese Grundhaltung, denn sie deckelte die Löhne und schuf zugleich eine Kernbelegschaft, die im Falle von Fehlverhalten nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihre Wohnung verlor. Auch für die Unternehmer war die soziale Frage kein strikter Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, war mehr als die leidige Lohnfrage. Sie verstanden sich als patriarchale Herren, die ihren Beschäftigten mehr schuldeten als Geld, die auch Verantwortung für deren Leben und deren Familie übernahmen. Entsprechend ging es ihnen – Wohlverhalten und moderate Ansprüche der Arbeiter vorausgesetzt – immer auch um die „allmähliche Hebung des Kulturstandes“ (1) der ihnen Anvertrauten. Betriebliche Sozialpolitik war für sie immer auch Bildungs- und Erziehungsprogramm: Der Wohnungsbau förderte die Familie und damit geordnete private Verhältnisse. Der 1891 von Noelle & von Campe initiierte Konsumverein führte zu geordnetem Wirtschaften und Barzahlung, hielt zugleich den Alkoholkonsum in akzeptablen Grenzen. Das 1904 von der im Jahr zuvor gegründeten Carl-Becker-Stiftung errichtete Invalidenhaus gab die Aussicht auf ein Lebensende in Würde.

Die Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Unternehmervillen – Noelle (1897), Becker (1905), von Campe (1905) – setzten allerdings einen neuen Akzent, wurde damit doch auch der Gegensatz zwischen beiden Gruppen deutlich hervorgehoben. Die Arbeitersiedlung Steinbreite war deren Gegenstück. An die Stelle der zuvor gebauten seriellen Mietwohnungen wurden nun nämlich Einzelhäuser gestellt.

Serielle Arbeitermietshäuser auf dem Gelände der Georgshütte um 1900 (Schreiben von G. Becker an die Kreisdirektion Holzminden v. 13. September 1901, Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Der Bau von Unternehmervillen einerseits, einer Arbeitersiedlung wie in der Steinbreite anderseits, spiegelte ein vorrangig städtisches Phänomen, nämlich die sozialräumliche Segregation einzelner Schichten – denken Sie etwa an den Gegensatz zwischen den Bürgervillen an der Hamburger Binnenalster und den Arbeiterbehausungen im Gängeviertel. Doch die Boffzener Bauanstrengung war auch Teil einer Stärkung des Landes, wie sie insbesondere vom 1896 gegründeten Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und dem Publizisten Heinrich Sohnrey propagiert wurde. (2) Sie war ebenfalls eine Antwort auf die in den Metropolen eifrig geführte Agrar-Industriestaat-Debatte, bei der es um nicht weniger als die Konturen des Deutschen Reiches ging. Sollten die Industrie und die sie vorantreibenden bürgerlichen Schichten das Land dominieren, oder sollten Adel und Großbauern einen bestimmenden Einfluss behaupten?

Heinrich Sohnrey plädierte für letzteres, doch der völkisch-nationalistische Propagandist wusste, dass sich auch und gerade das Land ändern musste, wollte es seine ehedem prägende Rolle nicht gänzlich verlieren. Gemeinsam mit vielen vor allem aus dem protestantischen Bürgertum stammenden Mitstreitern entwickelte er ein umfassendes Reformprogramm, bei dem es um eine Verbesserung der ländlichen Verhältnisse auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet ging. (3) Wirtschaftlich zielten die Reformer auf selbständige bäuerliche und handwerkliche Existenzen, unterstützten daher Kredit- und Produktionsgenossenschaften, regten eine durchaus marktbezogene Veredelungswirtschaft an, ebenso die Anbindung an Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Sozial stand man für eine regulierte Zufuhr ausländischer Landarbeiter, für Maßnahmen zur sozialen Besserstellung deutscher Landarbeitern, umfassende Bildungs- und Erziehungsprogramme sowie eine systematische Förderung der Dörfer, um Grundlagen der Daseinsfürsorge gewährleisten zu können. Kulturell koppelte man Volkskunde und Brauchtumsförderung mit einem umfassenden Naturschutz. Es handelte sich also um eine aus heutiger Sicht widersprüchlich anmutende Verbindung von sozialpolitischem Fortschritt und einem ideologisch aufgeladenen Beharren auf einem ideal gedachten, so jedoch nie existierenden ländlichen Dasein. Arbeiter in Industriedörfern wie Boffzen waren für diese Reformer Teil eines größeren Problems, zugleich aber Teil der Lösung.

Hier gedeihlich ansässige Arbeiter boten nämlich eine Alternative zu den – so die Wahrnehmung – fordernden sozialdemokratischen Proletariermassen, belegten zugleich auch, dass Klassenkampf nicht nötig sei. Diese durchaus wirkungsvolle Reformbewegung stand am Anfang einer deutlich breiter aufgestellten und weniger sozialpolitisch agierenden Heimatschutzbewegung und allgemeiner Bestrebungen zur „inneren Kolonisation“. Sie teilten wichtige Elemente mit der Lebensreformbewegung dieser Zeit, insbesondere eine Sehnsucht nach dem Lande und dem Ländlichen, wie sie sich etwa in der Künstlerkolonie Worpswede, vegetarischen Siedlungen wie etwa „Eden“ bei Oranienburg oder aber der Wandervogelbewegung niederschlug: „Die Großstädte bieten immer weniger die Möglichkeit, angenehm in ihnen zu wohnen. Die Ansiedelung auf dem Lande, mit ländlichem Naturgenuß und Naturnutzbarkeit ist das Ziel der Gegenwart, und das Wohnen auf dem Lande in enger Verbindung mit der Natur wird in der Zukunft stets als notwendige Stärkung zur Arbeit in der Stadt erstrebt werden.“ (4)

Arbeiterkolonie Marga im Braunkohlerevier der Niederlausitz: Heimstatt für 3.800 Menschen (Die Woche 16, 1913, 1361)

All dies hatte deutliche Rückwirkungen auf die Wohnungsfrage und insbesondere den Arbeiterwohnungsbau. Die Wohnverhältnisse waren bereits im frühen 19. Jahrhundert in Stadt und Land prekär geworden, doch die moderne Wohnungsfrage stellte sich zuerst in den Industriezentren, dann in den Metropolen. Der rasche Zuzug von Hundertausenden überforderte die Kapazitäten des Baugewerbes, traf auf eine erst aufzubauende Bauverwaltung, ließ der Spekulation gar breiten Raum. Die Wohnungsnot trat während der Gründerkrise in den 1870er Jahren in den Blick der Öffentlichkeit, da die damals vornehmlich in Berlin hochgezogenen Mietskasernen in ihrer seriellen Ausdruckslosigkeit nicht den Vorstellungen des Bürgertums entsprachen. (5) Das galt noch stärker in reinen Industriezentren, etwa den Kohleregionen des Ruhrgebietes, der Lausitz oder aber Oberschlesiens, wo große Hütten die Daseinsfürsorge vielfach in eigene Hand nehmen mussten. Der Arbeiterwohnungsbau war dort notwendig und „ein gutes Mittel, Arbeiter in der Nähe der Arbeitsstätte seßhaft zu machen und sich einen Stamm tüchtiger Kräfte zu erhalten. In den Städten freilich kommt dieses Mittel weniger zur Anwendung, vielmehr vornehmlich auf dem Lande, wo es gilt, Arbeiter an abgesondert liegende Werke zu fesseln.“ (6) Doch gerade in diesen Regionen veränderte sich um die Jahrhundertwende die Art des Bauens: „Man war von den langweiligen und öden Reihenhäusern der ersten Bauperiode auf die abwechselnd gestalteten, gefälligen neueren Arbeiterhäuser gekommen“ (7). Diese architektonischen Veränderungen zielten allesamt tiefer, wollten mehr als die Regelung lokaler Probleme bei der Unterbringung von Arbeitern. Es ging um deren Verbürgerlichung, um ein Angebot für ein besseres, nicht proletarisches Leben. (8)

Praktiker warnten allerdings vor zu großen Erwartungen, wie sie insbesondere im protestantischen Bürgertum gehegt wurden. Deren religiös geprägter Idealismus setzte vielfach nicht bei der Lebenswelt der damaligen Arbeiter, ihren Nöten und Vorstellungen an. Die Liebe für das Land war bei denen, die zumeist vom Land in die Stadt gezogen waren, um dort ein besseres Leben zu führen, nicht sonderlich ausgeprägt: „Meist findet man eine Vorliebe für das Landleben, den Wunsch, ein Einfamilienhaus außerhalb der Steinmauern der Großstadt zu besitzen, erst bei den im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf Emporgekommenen, denen, die über die gröbste Sorge hinaus sind, vor allem den Gebildeten und den Angehörigen der oberen Gesellschaftsklassen. Es ist aber durchaus irrig, diese Liebe zur Natur ohne weiteres auch bei den anderen Stadtbewohnern vorauszusetzen.“ (9) Zum anderen aber gab es beträchtliche Probleme bei der Umsetzung ambitionierter Wohnungsbauprojekte. Güterabwägungen waren erforderlich, denn die für Arbeiter möglichen Kleinwohnungen konnten nicht deutlich über dem Einkommensniveau einer Region liegen, mussten also erschwinglich sein. Anderseits mussten sie der sich gerade um die Jahrhundertwende rasch entwickelnden Konsumkultur zumindest ansatzweise entsprechen. Dies schien die Quadratur des Kreises zu sein – und es ist kaum verwunderlich, dass die Skepsis sozialdemokratischer Theoretiker groß war. Für sie war die Wohnungsfrage eine Lohnfrage, würden erst höhere Löhne das Problem regeln. Doch auch sie wussten, dass größere Wohnungen relativ billiger waren, zumindest in Bezug auf die Miet- resp. Baukosten je Quadratmeter. (10)

Karl Siebold als Ideengeber der Boffzener Arbeitersiedlung

Protestantischer Erwecker. Der Architekt Karl Siebold (Stadtarchiv Gütersloh, Wikipedia)

All diese Debatten fanden auch in Boffzen Gehör und Widerhall, mochte sich die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land sowie die Arbeiterwohnungsfrage vor Ort auch anders stellen. Doch auch in Boffzen gab es ein protestantisches Bürgertum, etwa den Pastor Heinrich Emil Schomburg [Link Pfarrhaus] oder aber den Hüttenbesitzer Max Eugen Noelle. [Link Villa Noelle] Sie nahmen diese allgemeinen Debatten nicht nur zur Kenntnis, sondern griffen deren Lösungsvorschläge produktiv auf. Entscheidend für die Arbeitersiedlung Steinbreite wurden dabei die Vorschläge des Architekten Karl Siebold. (11)

Siebold stammte aus einer Pastorenfamilie im ostfälischen Schildesche (bei Bielefeld), aus einem Umfeld von protestantischer Erweckungsleidenschaft und Innerlichkeit. Das war nicht eine Stätte modernen Rationalismus, wohl aber eines reflektierten Idealismus, wie für die Wohnungsreform gewiss erforderlich. Siebold studierte Architektur an der Berliner Bauakademie, siedelte dann nach Bethel über. Bethel, das war damals vor allem Friedrich von Bodelschwingh, Sozialreformer und Menschenfänger, dessen Anstalten Maßstäbe für die protestantische Sozialarbeit setzten. Siebold profitierte von Bodelschwinghs Vorarbeiten im Kleinwohnungswesen, die 1885 in den Verein „Arbeiterheim“ mündeten.

„Eigener Herd auf eigener Scholle“ – Die Wohnkolonie des Deutschen Vereins Arbeiterheim (Behrendt, 1898, 1)

Bodelschwingh war Teil der breiteren Wohnreformbewegung, für die er predigte und warb. (12) Sein Ziel war „eigener Herd auf eigener Scholle“, die rasch errichtete Wohnkolonie bildete einen Gegenentwurf zur Verstädterung der modernen Industriegesellschaft. Es ging um ausreichende, bezahlbare Familienwohnungen, um ein ländlich zufriedenes Leben, um „Häuschen, Gärtchen und Schweinchen“, so Bodelschwingh. Siebold wurde technischer Leiter der Versuchsstation des Vereins „Arbeiterheim“, experimentierte mit Grundrissen, Baumaterialien und architektonischen Formen, ehe er 1891 die Leitung der Bauverwaltung der Bodelschwinghschen Anstalten übernahm. (13)

Als solcher wurde Siebold bekannt, sein Hauptinteresse galt jedoch dem Kirchenbau, schuf er doch nicht weniger als 36 evangelische Kirchen und acht Kapellen. Aber er baute zudem Wohnsiedlungen, etwa auf der Zeche Radbod bei Hamm in Westfalen, im benachbarten Kamen, bei St. Avoid in Lothringen. Rentengüter im siegerländischen Weidenau waren darunter, doch auch Siedlungen in Niedersachsen: 80 Kleinwohnungen in Wietze bei Celle, immerhin zehn in Carlshafen an der Weser. (14) Boffzen lag in der Nähe, doch Siebold baute hier nicht. Die Arbeitersiedlung Steinbreite ist ohne seine Broschüre „Viventi satis“ von 1906 jedoch nicht denkbar. (15) Sie wirkte vor Ort, wirkte insbesondere auf Max Eugen Noelle.

Arbeiterwohnungsbau im niedersächsischen Stil. Arbeiterhaus in Wietze bei Celle (Siebold, 1910, 76)

Siebold entwickelte darin mit klaren Strichen seine Antwort auf die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land sowie die Wohnungsfrage. „Das Ideal wäre: überall sesshafte Leute auf eigenem Grund und Boden.“(16) Er plädierte für eine an die örtlichen Verhältnisse angepasste Formsprache, für billige Eigenheime für alle. Das erforderte „ländliches“ Bauen, also den Verzicht auf Kanalisation oder ausgebaute Nebenwege. Für lediglich 3500 M sollte ein solches Haus möglich sein – das waren für die bestbezahlten Boffzener Glasbläser etwa zwei Jahreslöhne. Die Häuser verzichteten auf Komfort, boten jedoch relativ viele Räume in Keller, Erdgeschoss und erster Etage: Viventi satis – Genug zum Leben. Das diente einem sittlichen Familienleben, sollten doch auch die Kinder nicht alle zusammenschlafen, sondern nach Geschlechtern getrennte Zimmer erhalten. Auch für Ziegen und Schweine gab es kleine Stallungen, ebenso für die unverzichtbaren Hühner. Die Häuser hatten allesamt einen Garten, doch neben den Magen trat auch das Gemüt. Vor dem Haus konnten Blumen und Ziersträucher angepflanzt werden, hinter dem Haus folgte ein Hof mit Bäumen für Mensch und Tier, schließlich der Gemüsegarten für Kartoffeln, Kohl und andere Leckereien. Ziel all dessen war es, „hoffnungsvolle Leute zu schaffen, die ‚festsitzen am Grund und Boden‘, Heimatgefühl haben und als glückliche unabhängige Menschen schliesslich selbst neben dem Viventi satis gern an ihres Hauses Giebel schreiben werden das wahrhaft Freie noch viel schönere: ‚Morituro satis‘“(17) – genug zum Sterben.

Vorbilder für die Arbeitersiedlung Steinbreite: Arbeiterwohnungen in Bethel (Siebold, 1906, nach 6)

Die Schrift erregte ein gewisses Aufsehen in Fachkreisen, nicht zuletzt wegen der darin enthaltenen polemischen Spitzen gegen die zu strikte Regulierung durch Baupolizeiverordnungen. Es folgten Aufträge, so etwa für die angesprochene Arbeitersiedlung der Zeche Radbod bei Hamm in Westfalen. Sie hat einige Ähnlichkeiten mit der Siedlung in der Steinbreite in Boffzen, war jedoch gänzlich anders dimensioniert, entstanden hier in der ersten Bauphase von 1906 bis 1909 doch 830 Häuser. (18)

Blick auf die Sieboldschen Arbeitersiedlung in Radbod (Siebold, 1910, 73)

Wichtig war, dass die einzelnen Häuser die Wünsche der Arbeiter berücksichtigten, dass sie zugleich eine Art dörfliches Ensemble schufen, obwohl sie allesamt die gleiche Grundausstattung boten. Siebold hat seine beim Bau gemachten Erfahrungen kurz darauf nochmals reflektiert und dargelegt. (19) Leitlinie war die gleichberechtigte Verbindung sozialer, wirtschaftlicher und architektonisch-technischer Aspekte: Sozial waren diese Siedlungen einem protestantisch-konservativem Menschen- und Gesellschaftsbild verpflichtet: „Ein gesundes Staatsleben beruht auf gesundem Familienleben. Nicht nur ein besonderer Volksstamm liebt das Einzelhaus, es ist das Naturgemäße für jede Familie, wie man aus der Geschichte der Völker erkennen kann. Das Ungesunde unserer jetzigen Bauweise ist zwar entwickelungsgeschichtlich verständlich, muß jetzt aber verschwinden.“ Ihm ging es daher um den Kampf gegen das städtische „Herdenwohnen, das unserer Entwickelung nicht mehr entspricht. Darum hinaus vor die Städte, auch wo noch keine Verkehrsgelegenheit vorhanden ist, sie wird schon nachfolgen, sobald die Ansiedelung geschehen! Gartenstädte, Gartendörfer!“ Wirtschaftlich plädierte Siebold für erschwingliche Wohnungen, möglichst ohne Subventionen von Industriebetrieben. Dazu nahm er den Staat, insbesondere als Kommune, in die Pflicht, hatte dieser doch Baugrund zu erwerben und auf Kredit- oder Erbpachtbasis weiterzureichen. Finanziert werden sollte all dieses durch eine angemessene Hypothekensteuer. Umsetzbar war dies nur bei einer praktischen und einfachen Bauweise. Aufgabe sei es, „unseren Mitmenschen zu einer menschenwürdigen Wohnung zu verhelfen und alle unsere Kräfte darauf zu richten, unter Benutzung der heutigen zahlreichen technischen Mittel einfache, aber doch ansprechende, hübsche Wohnungen mit genügenden Räumen zu schaffen, zu Preisen, die es einem normalen gesunden Arbeiter ermöglichen, ein kleines Häuschen zu erwerben, oder wenigstens mietweise zu bewohnen. Um das zu können, muß man freilich mit den Traditionen des alten Städtebaues sowie der städtischen Bauweise radikal brechen.“ All das war Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs vor dem Ersten Weltkrieg, der auch das konservativ-nationale Milieu ergriff. Wichtig war Leipold schließlich – hier ist er Teil des Heimatschutzes –, dass die Häuser örtlichen und regionalen Baustilen verpflichtet blieben.

Häuser mit Gärten – Planungen in der Steinbreite 1909 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Gemeinde Boffzen)

Gemächlich und gründlich: Der Bau der Siedlung Steinbreite

Der nationalliberale Boffzener Glashüttenbesitzer Max Eugen Noelle war von diesen Plänen beeindruckt: „Und als später ein Bauernhof zur Versteigerung kam, kaufte die Firma ein Stück Land unterhalb der Hütte in Größe von 12[?] Morgen, legte eine Straße hindurch und stellte den Arbeitern dies Land zum Wohnungsbau zur Verfügung. Sie ließ aus Bethel bei Bielefeld Pläne für Einfamilienhäuser kommen und so entstand eine neue Siedlung.“ (20) Es ist wahrscheinlich, dass die typisierten Entwürfe Siebolds von der Baufirma August Knop an die Verhältnisse vor Ort angepasst wurden.

Die Arbeitersiedlung Steinbreite entstand seit 1906 Haus um Haus. Die Wohnungen waren größer und hygienisch besser ausgestattet als die Häuser im Boffzener Dorfkern – und insbesondere als die früheren Arbeiterwohnungen der Glashütten. Die Haustypen variierten zwischen Mehr- und Einfamilienhäusern, alle besaßen Gartenland und Stallungen. Als 1913 Ludwig Düsterdiek und August Pöppe in ihre Mietshäuser zogen, hatten fünfzehn Glasmacherfamilien ein neues Zuhause erhalten.

Raumplan des Erdgeschosses des Hauses des Glasmachers Heinrich Böker, Steinbreite 6 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Während das Äußere sich schon aufgrund des Sollinger Sandsteines in die dörfliche Umgebung einfügte, folgten die Raumpläne den Ideen, die Siebold erst in Bethel, dann an anderer Stelle umgesetzt hatte: Keller, Erdgeschoss und erste Etage; relativ viele Räume für Kinder und die Eheleute; gesonderte Arbeitsräume für die Hausfrau, um die Küche wohnlicher zu machen; Platz für Kleinvieh und Gartengewächse; keine Kanalisation, doch zentrale Wasserversorgung. All das war erschwinglich, auch für die Glasarbeiter Boffzens.

Steter Ausbau: Errichtung einer Laube für die Witwe des Glasmachers Albert Dormann 1912 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Schon kurz nach dem Bezug begannen die Bewohner dann mit der Umgestaltung, mit der Verschönerung ihrer Anwesen. Schuppen wurden ergänzt, eine Laube errichtet. Die Arbeitersiedlung Steinbreite bot genug zum Leben. Die ach so billigen Häuser stehen immer noch, aus- und umgebaut, dem heutigen Leben angepasst. Aus Arbeitern sind Bürger geworden, Mitbürger in einem auf Kompromiss aufgebauten Gemeinwesen, das immer noch um Antworten ringt auf die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land und die drängende Wohnungsfrage.

Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, 4. November 2020

Anmerkungen
(1) W[ilhelm] Kähler, Moderne Arbeiterwohnungseinrichtungen, Soziale Praxis 12, 1902/03, Sp. 1155-1156, hier Sp. 1159.
(2) Georg Stöcker, Agrarideologie und Sozialreform im Deutschen Kaiserreich. Heinrich Sohnrey und der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege 1896-1914, Göttingen 2011.
(3) Heinrich Sohnrey (Hg.), Wegweiser für Ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, 3. verb. u. verm. Aufl., Berlin 1909.
(4) Willy Lange, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Land- und Gartensiedlungen, Leipzig 1910, V-VIII, hier V.
(5) Plastische Schilderungen finden sich in Wilh[elm] Gemünd, Neuere Bestrebungen auf dem Gebiete der Wohnungs- und Städtehygiene, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 44, 1912, 412-434, hier 412-414. Vgl. allgemein Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810-1900, Wien 1987, 244-277 und insbesondere Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914. Bilder – Daten – Dokumente, Münster 1985.
(6) Carl Johannes Fuchs, Wohnungsfrage und Wohnungswesen, in: Ludwig Elster und Adolf Weber (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaft, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Ergänzungsbd., Jena 1929, 1098- 1160, hier 1125-1126 (Zitat von Lehr).
(7) Kähler, 1902/03, Sp. 1155-1156.
(8) [Otto] Kamp, Wohnung, Hausrat und Wirtschaftsführung im deutschen Arbeiterhaushalt, Leipzig 1902.
(9) Gemünd, 1912, 424.
(10) Jos[ef] Kurth, Die Wohnungsfrage als Lohnfrage, Der Zeitgeist 6, 1913, 263-265.
(11) Zur Biographie vgl. Werner Siebold, Karl Siebold. Ein großer Baumeister Niedersachsens, Hemsbach a. d. Bergstraße 1940, 7-27; Ulrich Althöfer, Der Architekt Karl Siebold (1854-1937). Zur Geschichte des evangelischen Kirchenbaus in Westfalen, Bielefeld 1998, 31-61.
(12) Friedrich von Bodelschwingh, Landwirthschaft, Industrie und der Verein „Arbeiterheim“, Bielefeld 1892.
(13) Paul Behrendt, Der Deutsche Verein „Arbeiterheim“ und seine Versuchsstation, 2. umgearb. Aufl., Bielefeld 1898.
(14) Siebold, 1940, 64.
(15) K[arl] Siebold, Viventi satis. Ein Beitrag zur Lösung der Frage des Kleinwohnungswesen, Bethel 1906.
(16) Siebold, 1906, 1.
(17) Siebold, 1906, 9.
(18) Siebold, 1940, 30.
(19) Karl Siebold, Ländliche Ansiedelungen von Arbeitern, in: Willy Lange (Hg.), Land- und Gartensiedlungen, Leipzig 1910, 71-79 (auch für die folgenden Zitate).
(20) Geschichte der Brückfelder Glashütte von Max Eugen Noelle (Transkription des handschriftlichen Originals: Dr. Stephan Brandt, Berlin, Stand 2017), 2, Archiv Elisabeth Pophal.

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