Einblick in eine Glashütte vor dem Ersten Weltkrieg

Glasarbeit faszinierte seit jeher. Sand, Pottasche, Soda, Kalkstein bildeten die Grundlagen, doch Glas wurde erst geschaffen durch die schmelzende Kraft des Feuers und das handwerkliche Geschick der Glasbläser. Der obige Einblick in eine Glashütte zeigt beispielhaft die hand- und mundwerkliche Herstellung von Flaschen und Vasen vor dem Ersten Weltkrieg (Das Buch für Alle 46, 1911, 202-203). Auch in Boffzen, in der Georgshütte und bei Noelle & von Campe wurde so gearbeitet.

Links sehen wir die Entstehung von Flaschen: Die Glaspfeife wird in die Schmelzmasse getaucht, die kühlt etwas ab, mehr wird aufgenommen. Ist genügend Masse am Ende der Pfeife, wird diese durch Drehen gleichmäßig um den Kopf verteilt, dann schafft kräftiges Blasen einen ersten Hohlraum. Abkühlen, richten, nachblasen, drehen, stabilisieren, ausweiten – all das erfordert Fingerspitzengefühl und kräftige Backen, ein Tonring hilft schließlich beim Ausblasen.

Soll am Ende eine Vase stehen, so sieht man die erforderlichen Schritte auf der rechten Seite des Bildes. Der Glasbläser nutzt einen kräftigen Stuhl, die heiße, doch schon vorgeformte Masse erhält seitlich Stütze. Zangen, Auftreib- und Plätteisen helfen bei der Formgebung. Flüssiges Glas wird ergänzt, die Vase erhält so Nuancen und den gewissen Charme. Am Ende stehen wieder Schlagwerkzeuge und Zangen – sanft eingesetzt, mit Bedacht. Nun fehlt noch der letzte Schliff – und Käufer, die diese Glasarbeit schätzen.

Einkochgläser als Passion – Ein Manuskript von Frank W. Rudolph

Einkochgläser im ehemaligen Glasmuseum Boffzen. Foto: Stefanie Waske

Zwischen dem Sammeln, Ordnen und Schreiben steckt viel Raum. Entdeckerfreude, die Sichtung von Angeboten, das Archivieren, es verlangt Zeit, viel Zeit. Wissen ist vorhanden, doch es bleibt unfertig, ist oft nur auf Zetteln, in Kisten, in Manuskripten zugänglich. Und doch ist es wertvoll, wertvoller als manch rasch dahingeworfener Artikel.

Titelbild der Publikation von Frank W. Rudolph.

Frank W. Rudolph [Verweis: Kirche – Kirchengeschichte – Kirchenräume (f-rudolph.info)] teilt seit Kurzem mit uns sein Glaswissen. Sein Manuskript „Einmachglas. Einkochglas. Deckel – Glashütten – Marken, 2021“ ist kostenlos verfügbar. Der Autor ist evangelischer Theologe, promoviert mit einer Dissertation über „200 Jahre evangelisches Leben. Wetzlars Kirchengeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Marburg 2009“. Zahlreiche Arbeiten zur Kirchengeschichte im Evangelischen Dekanat Biedenkopf schlossen sich an. Seine Webseite bietet mehr: Predigten, Alltagshinweise, Eindrücke seiner Fotokunst. Wir aber konzentrieren uns auf Rudolphs weitere Passion, die Einkochgläser.

Das Manuskript vereinigt vier Teile mit unterschiedlicher Qualität, mit unterschiedlichem Umfang. Am Anfang steht eine Chronologie der Geschichte der Herstellung von Einmachgläsern, darunter eine Liste zahlreicher Konservenhersteller nebst ihren Marken. Zweitens folgt ein breiter Überblick von 73 Produzenten und der von ihnen verwandten Glasdeckel – darunter natürlich auch die Boffzener Georgshütte G. Becker & Co. (Nr. 24) mit ihren Beco-Gläsern sowie Noelle & von Campe (Nr. 28) mit den Marken NC, Noellca und Gloria. Damit nicht genug: Glasfreund Rudolph präsentiert in einem dritten Teil Glasdeckel um Glasdeckel, schärft den Blick für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Sortimente: 314 Abbildungen in einer ersten, 82 in zwei weiteren Listen. Es folgt ein kürzerer vierter Teil mit einigen Texten zur Geschichte des Einkochens. Wenn Sie mehr wissen wollen, so klicken Sie hier (Einmachglas (f-rudolph.info)) und laden sich das 74 MB starke Manuskript herunter.

Beco-Einkochdeckel der Georgshütte G. Becker & Co. (Rudolph, Einmachglas, [212])

Frank W. Rudolph weiß um die Schwächen selbst dieses Werkes: „Das Manuskript ist unvollständig und fehlerhaft. Es gibt Lücken und offene Fragen. Prüfen Sie alles. Schicken Sie mir gerne Informationen.“ Wir aber sehen die Stärken dieser ungemein hilfreichen und akribischen  Zusammenstellung. Wir danken für diese immense Arbeitsleistung, für die uns gewährten, ja geschenkten Einblicke und Erkenntnisse. Als Glasfreunde danken wir einem anderen Glasfreund, mit dem wir eine Passion teilen.

Das Glas der Schwarzburger – Eine aktuelle Ausstellungsreihe in Thüringen

Schönes Ambiente – wenige Stücke: Vitrine der Ausstellung „Glas schützt!“ im Thüringer Landesmuseum Heidecksburg in Rudolstadt (Foto: Stefanie Waske)

Man muss nicht jede Ausstellung sehen. Lange Fahrten und beschwerlicher Aufstiege müssen sich schließlich lohnen. Im Residenzschloss Heidecksburg – dem früheren Stammsitz der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt – ist seit dem 6. Mai 2022 eine kleine Kabinettsausstellung zu sehen. Unter dem Titel „Glas schützt!“ präsentiert sie nicht nur „schönes“ Glas. Ihr Ziel ist stattdessen, den Besuchern die große Bedeutung von Glas für die Ausbildung von Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft vor Augen zu führen. All das in drei, dreieinhalb Räumen, teils im Schlossflur.

Präparate aus der Naturaliensammlung: Ein Chamäleon und ein Nilkrokodil im schützenden Glasbehälter (Foto: Uwe Spiekermann)

Glas wird dort als Kunststoff präsentiert, als Sinnenweiter. Der Schliff erschloss seit dem späten Mittelalter neue Welten. Die Brille korrigierte nicht nur, sie erlaubte ein anderes Sehen, verwies auf das breite Reich zwischen Schärfe und Unschärfe. Während das Fernrohr in den Himmel, in die Weite sehen, Artillerie und Soldatenmassen anleiten ließ, erlaubte das Mikroskop Einblicke in Mikrowelten. Präparate von Tieren und Menschen waren ergötzliche Schaustücke in den Naturalienkabinetten der Adeligen, erlaubten zugleich aber eine neue Ordnung der Natur. Vergleich und Systematik waren die Folge derartig in Glas gebannter Realien, Biologie und Medizin profitierten davon.

All das wird in der Rudolstädter Ausstellung kurz gestreift, nicht aber wirklich angegangen, ja vertieft. Die meisten der nicht allzu zahlreichen Stücke entstammen der adeligen Repräsentationskultur vor Ort, eine Weitung auf die breit gefächerte Schutzfunktion des Glases hätte ganz andere Anstrengungen erfordert. Stattdessen umtänzelt die kleine Ausstellung das selbst gesetzte Thema. Deutlich wird dies etwa am Prunkstück selbst, einer verglasten Tragesänfte, bei der Diener die Rolle der Zug- und Tragetiere übernahmen. Glas schützte den edlen Herrn, die edle Damen vor den Unbilden der Witterung, vor den Sturzbächen des Himmels, vor dem eisigen Zug der Lüfte. Das Glas gab zugleich einen Blick auf die Insassen frei, zeigte sie abgehoben von den Fährnissen des Alltags des einfachen Volkes, bot Schutz vor dem Pöbel. Mittels einer Schiebemechanik konnte diese Grenze allerdings auch aufgehoben werden, doch nur von innen, huldvoll nach außen gewandt.

Glas als Zeichen ständischer Erhabenheit: Eine Sänfte des 18. Jahrhunderts (Foto: Uwe Spiekermann)

Die Rudolstädter Kabinettsausstellung ist Teil einer Ausstellungsserie zum „Glas der Schwarzburger“ [Video: Vierteilige Ausstellung „Das Glas der Schwarzburger“ | MDR.DE]. Sie ist verteilt auf die vier früheren Höfe der Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt, einem der 25 Bundessstaaten des 1871 gegründeten Deutschen Reiches. Nach dem Ende der Monarchie gingen deren Sammlungen 1919 gegen Abstandszahlungen großenteils in Museumsstiftungen über. Jede der vier Teilausstellungen bedient sich aus diesem Fundus, setzt jedoch eigene Akzente: Im Regionalmuseum Bad Frankenhausen heißt es „Glas wandert!“. Dort geht es um Glasmacher auf der Wanderschaft, um den behutsamen Transport des zerbrechlichen Gutes, zugleich aber um Glas als Transportverpackung. Traditioneller ist der Zuschnitt der Teilausstellung „Glas verändert!“ im Schlossmuseum Sondershausen. Sie konzentriert sich auf die repräsentative Kultur der Herrschenden und deren Wetteifern um vorzeigbare, neue Stücke. „Glas schützt!“ in Rudolstadt wird schließlich ergänzt durch „Glas erstaunt!“ im Schlossmuseum Arnstadt. Auch dies eher Widerspiegelung der höfischen Selbstdarstellung, hinter dem das ebenfalls gezeigte Laborglas zurücktritt.

Die Idee einer thematisch versetzten Ausstellung nimmt erst einmal ein – doch für eine vertiefende Analyse bieten die geviertelten Teile doch recht wenig. Das gilt für die Zahl der Stücke, gilt aber insbesondere für die thematische Darstellung. Die kurzen Texte bieten nur leicht erweitertes Alltagswissen, bleiben vielfach oberflächlich. Die Exponate, die vielfach aus anderen Teilen der Dauerausstellungen rübergestellt wurden, werden in ihrer Vielgestaltigkeit, ihrer „Multidimensionalität“, nicht wirklich ausgeleuchtet. Glas wandert, verändert, schützt und erstaunt, gewiss. Doch das gilt für die meisten Stücke gleichermaßen. Die Kuratoren haben dies nur unzulänglich ausgearbeitet, setzten Zeigestolz an die Stelle von Scheidekunst. Das ist überraschend, gründet die Ausstellungsreihe doch auf einem 2018 bis 2021 vom Bundesministerium für  Bildung und Forschung geförderten Projekt namens „Glas. Material, Funktion und Bedeutung zwischen 1600 und 1800 in Thüringen“, dessen Publikationszahl allerdings auch recht überschaubar ist (Projekt – Objekt Glas – DE (objekt-glas.de)).

Der Solling als Taktgeber im 18. Jahrhundert. Deckel mit Mariengroschen im Knauf aus der Schorborner Hütte (Foto: Stefanie Waske)

Dennoch: Wer Zeit, Lust und Geld hat, kann sich auf die Rundreise nach Thüringen begeben, kann eine kleine Ausstellungtour von Bad Frankenhausen über Sondershausen, Arnstadt nach Rudolstadt unternehmen. Die Ausstellungsreihe „Das Glas der Schwarzburger“ allein lohnt den Aufwand nicht. Doch in den Orten, in den Museen findet sich auch manch anderes: Im Thüringer Landesmuseum Heidecksburg lockt beispielsweise die wunderbare Ausstellung „Rococo en miniature“. Zwei Ossis, Manfred Kiedorf (1936-2015) und Gerhard Bätz (*1938), haben in fünfzigjähriger Arbeit eine Gegenwelt zum profanen (DDR-)Alltag geschaffen, feiern in Miniaturmodellen das höfische Leben in den Fantasiereichen Pelarien und Dionien. Auch dort findet man Glas, wenngleich kein echtes. Aber die nachgemachten Kronleuchter, Karaffen  und Küchenbehältnisse zeugen stärker als das Glas der Schwarzburger von einer verbindenden Idee von Heiterkeit, Frohsinn und stilvollem Ernst – für alle, nicht nur in Kunstwelten, nicht nur der Herrschenden.

Uwe Spiekermann

Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg

Gewerbliche Konservierung und häusliches Einmachen („Tischlein deck dich“ kein Märchen mehr, Hanau und Frankfurt a.M. 1901, 1 (l.))

Glas wurde erst im späten 19. Jahrhundert zum wichtigsten Hilfsmittel für neues modernes Einmachen. Damals etablierte sich die moderne Hitzesterilisierung, also das Einkochen in einem Kochapparat und das anschließende Abfüllen der Nahrung in sterile Gläser. Neue Industrien entstanden, Einkochgläser wurden zur Spezialität auch der Boffzener Georgshütte und von Noelle & von Campe. Die verwickelte Geschichte des Einmachens, der Kampf zwischen Glaskonserven und Blechbüchsen, die Ausbreitung der häuslichen Konservierung mit ihrem Höhepunkt in den 1930er und 1940er Jahren behandelt Uwe Spiekermann in seinem reich bebilderten Beitrag „Glas in den häuslichen Alltag! Konservieren und Einkochen bis zum Zweiten Weltkrieg“. Klicken Sie und lesen Sie!

Blechdose oder Glaskonserve? Ein Kampf auch im Haushalt (Vossische Zeitung 1914, Nr. 387 v. 2. August, 9 (l.); Lustige Blätter 19, 1904, Nr. 26, 17)

Die Boffzener Glasindustrie offiziell – Auszüge aus dem Deutschen Reichsanzeiger 1874-1944

Glas ist ein Gemenge gar unterschiedlicher Rohmaterialien. Erst in rechter Kombination und nach kundiger Verarbeitung ergeben sie ein glänzend-schimmerndes Produkt, das von der Könnerschaft des Herstellers zeugt. Geschichte ist ähnlich beschaffen. Es bedarf breiter Kenntnisse und Erfahrungen, um aus dem Material, um aus gar unterschiedlichen Quellen eine Einheit zu schaffen, eine die trägt und Erklärungswert hat. Entsprechend ist es eine wichtige Aufgabe des Freundeskreises Glas, einschlägige Quellen zu sichten und zu sichern. Eine wichtige Grundlage bieten dabei offizielle Quellen, solche amtlicher Natur: Vor Gericht, auf dem Amt, im Vertrag wird Tacheles geredet, nicht schwadroniert. Einschlägige amtliche Quellen bilden daher wichtige Referenzpunkte für jede tiefergehende historische Arbeit – doch sie sind im Regelfall breit zerstreut, finden sich in staatlichen und privaten Archiven, in mehr oder minder geordneten Sammlungen. Und doch: Es gibt eine wichtige Ausnahme, den Deutschen Reichsanzeiger.

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Titelvignette des Deutschen Reichs-Anzeigers (DRA) 1900

Dabei handelt es sich um eine ab 1819 in Preußen als Allgemeine Preußische Staatszeitung begonnene amtliche Zeitung, deren Hauptaufgabe es war, die Verwaltung des Königsreichs über die einschlägigen Verordnungen und Personalnachrichten zu informieren. Die mehrfach umbenannte Zeitung ging 1871 in den Deutschen Reichs-Anzeiger und Königlich Preußischen Staatsanzeiger auf und erschien ab November 1918 als Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger. Die Zeitschrift besteht auch heute noch, nämlich als Bundesanzeiger. Der Deutsche Reichsanzeiger begann als überschaubare Zeitung, legte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch an Umfang deutlich zu, spiegelte damit die Verrechtlichung und Bürokratisierung des Alltagslebens. Handelsregistereintragungen, Konkursnachrichten, Gebrauchsmuster und Patentanmeldungen, Zwangsvollstreckungen und Steckbriefe finden sich darin – auch alle im Ersten Weltkrieg verletzten und gefallenen Soldaten aus Boffzen und selbst die vergebliche Suche des Holzmindener Amtsanwaltes nach dem 1853 in Boffzen geborenen Glasmachers Carl Wilhelm Heinrich Nolte, der 1883 auswanderte, ohne sich zuvor als Ersatzreservist bei der Militärbehörde ordnungsgemäß abzumelden (DRA 1883, Nr. 54 v. 3. März, 5; ebd. Nr. 66 v. 17. März, 6).

Der Deutsche Reichsanzeiger ist ein Monument preußischer und deutscher Bürokratie – und als solches hat es einen Umfang angenommen, der per Hand kaum zu bewältigen ist. Seit kurzem liegt jedoch eine digitalisierte Version vor, die ein Blättern am heimischen Schreibtisch erlaubt, zudem eine Volltextsuche anbietet. Fürwahr, ein monumentales Unterfangen, für das man Dank sagen muss.

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Leider spiegelt die Digitalisierung des Deutschen Reichsanzeigers jedoch die gängige Rückständigkeit dieses Landes: Der Aufwand war immens, doch das Resultat ist halbbacken. Die Texterfassung selbst ist ungleich, Teile des Textes sind verwischt, verwackelt und schon im Scan schlecht oder gar nicht lesbar. Die digitale Lesbarkeit dieser dann mit einer OCR-Technologie bearbeiteten Scans ist bestenfalls mittelmäßig zu nennen – auch wenn die beauftragte Firma mehrere Durchgänge gefahren hat, um das Ergebnis zu verbessern. Nach meiner gewiss groben Schätzung ist etwa die Hälfte der Firmen- oder Personennamen unmittelbar lesbar. Durch die Kombination verschiedener Suchworte kann man das Ergebnis allerdings verbessern. „Noelle & von Campe“ ist eben komplexer als „Noelle“ oder „Campe“ – wenngleich dann die Zahl der einzusehenden Fundstellen rasch hochschnellt. Um allen Glasfreunden mühselige Kärrnerarbeit zu ersparen, finden Sie nun nachfolgend zentrale Ergebnisse meiner Recherchen nach der Geschichte der Boffzener Glasindustrie. Beibehalten habe ich die natürlich andere Schreibweise, auch originale Fettungen. Die Auszüge setzen erst nach der Reichsgründung 1871 ein, war Boffzen und der Landkreis Holzminden doch Teil des selbständigen Herzogtums Braunschweig. Sie enden offiziell 1945, doch es wird an einer Digitalisierung auch des Bundesanzeigers gearbeitet. Festzuhalten ist, dass die halbgare Digitalisierung leider ein nur lückenhaftes Bild erlaubt. Das gilt weniger für die Handelsregistereinträge als für die hier nur teilweise erfassten Patentanmeldungen und Warenzeichen. Bewahrt man dies im Hinterkopf, so bieten die folgenden Quellenauszüge gleichwohl ein solides Fundament für weitergehende Untersuchungen. Zugleich laden sie ein, die nach wie vor beträchtlichen Lücken in unserem Wissen über die Boffzener Glasindustrie weiter zu schließen.

Noelle & von Campe

Handelsregistereinträge

Zu den Boffzener Pionierunternehmen s. Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, Wagemut und Kapitalmangel – Die Anfänge der Boffzener Glasindustrie 1866-1874

1874, 22. Dezember:

Braunschweig, Herzogliches Handelsgericht: „Aus der zwischen dem Kaufmanne Heinrich Schmidt und dem Oekonomen August von Campe, Beide auf der Steinbreite bei Höxter, unter der Firma: Schmidt & Co., Glasfabrik Steinbreite bei Höxter bestandenen offenen Handelsgesellschaft ist der gen. Kaufmann Schmidt ausgeschieden, an dessen Stelle aber sind die Kaufleute Heinrich Noelle und August Noelle, Beide zu Lüdenscheid, seit dem 1. Oktober d. Js. eingetreten, welche das Handelsgeschäft in Gemeinschaft mit dem Oekonomen von Campe in offener zur Glasfabrik Steinbreite (Gem. Bezirk Boffzen) domicilirten Handelsgesellschaft jedoch unter der neuen Firma: Noelle & von Campe fortsetzen. Die sämmtlichen Aktive und Passiva der erstgenannten Firma sind auf die neue Firma übergegangen. Zugleich ist dem Kaufmanne Hermann Noelle zu Höxter von dem Inhaber der letztgenannten Firma für diese Prokura ertheilt. Demgemäß ist die erstgenannte Firma im Handelsregister für den Amtsgerichtsbezirk Holzminden Fo. 37 gelöscht, dagegen die letztgenannte Firma, sowie die dem Kaufmanne Noelle ertheilte Prokura in dasselbe Register Fol. 44 eingetragen.“ (DRA 1875, Nr. 3 v. 5. Januar, 6)

1888, 30. Mai:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist bei der daselbst Seite 44 eingetragenen Firma Noelle & von Campe heute vermerkt, daß dem Kaufmann Max Eugen Noelle zur Steinbreite bei Höxter für die genannte Firma Prokura ertheilt ist.“ (DRA 1888, Nr. 144 v. 5. Juni, 12)

1890, 14. April:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „In das hiesige Handelsregister ist Fol. 44 bei der Firma Noelle & von Campe eingetragen: Laut Anzeige vom 15./27. März 1890 ist der Antheil des verstorbenen Fabrikanten Heinrich Noelle zu Lüdenscheid an dem offenem Handelsgeschäfte durch Erbgang auf seine Söhne Hermann Wilhelm Noelle und Gustav Adolf Noelle zu Lüdenscheid übergegangen und wird das Handelsgeschäft von diesen und den Mitgesellschaftern August Noelle in Lüdenscheid und August von Campe zu Steinbreite bei Boffzen unter des bisherigen Firma fortgeführt. Ferner ist daselbst die dem Kaufmann Hermann Noelle zu Höxter unterm 22. Dezember 1874 ertheilte Prokura gelöscht.“ (DRA 1890, Nr. 96 v. 18. April, 12)

1899, 6. Oktober:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist Fol. 44 bei der Firma Noelle & von Campe eingetragen: Laut Anmeldung vom 16. v. Mts. und vom heutigen Tage ist der Kaufmann August Noelle in Lüdenscheid aus der Gesellschaft ausgetreten und sind seine beiden Söhne, der Kaufmann und Fabrikant Max Eugen Noelle in Brückfeld bei Boffzen und der Kaufmann und Fabrikant Walther Noelle in Lüdenscheid, als neue Gesellschafter eingetreten. Die dem Kaufmann Max Eugen Noelle ertheilte Prokura ist gelöscht.“ (DRA 1899, Nr. 242, 10)

1901, 31. Mai:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist Fol. 44 bei der Firma Noelle & von Campe in Boffzen eingetragen: Der Fabrikant August von Campe ist durch Tod aus der Gesellschaft ausgeschieden, und an seiner Stelle ist sein Sohn, Fabrikant Otto von Campe zu Brückfeld b. Boffzen, mit dem 1. Mai 1901 als Gesellschafter eingetreten.“ (DRA 1901, Nr. 132 v. 6. Juni, 10)

1912, 9. April:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister A Fol. 44 ist bei der Firma Noelle & von Campe in Boffzen folgendes eingetragen: Der Gesellschafter Hermann Wilhelm Noelle [ist] durch Tod aus der Gesellschaft ausgeschieden. [An] seine Stelle ist der Kaufmann und Fabrika[nt] Richard Hermann Noelle in Lüdenscheid eingetrete[n].“

1922, 30. Mai:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist heute bei der Firma Noelle & von Campe zu Boffzen eingetragen, daß der Kaufmann und Fabrikant Kommerzienrat Gustav Adolf Noelle aus der Gesellschaft ausgeschieden ist. Der Kaufmann und Fabrikant Adolf Leonhard Noelle zu Lüdenscheid ist als persönlich haftender Gesellschafter in die Gesellschaft eingetreten.“ (DRA 1922, Nr. 137 v. 15. Juni, 18)

1931, 16. April:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister A ist bei der Fa. Noelle & von Campe zu Boffzen-Brückfeld heute eingetragen, daß der Kaufmann Adolf Leonhard Noelle aus der Gesellschaft ausgeschieden ist.“ (DRA 1931, Nr. 98 v. 28. April, 10)

1933, 22. Februar:

Amtsgericht Holzminden: „Im hiesigen Handelsregister A ist am 22. 2. 1933 bei der Fa. Noelle & v. Campe, off. Handelsges., zu Boffzen eingetragen, daß die Gesellschaft aufgelöst ist. Der bisherige Mitgesellschafter Walter Noelle ist der alleinige Liquidator der Gesellschaft.“ (DRA 1933, Nr. 57 v. 8. März, 9)

1933, 9. März:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister B ist am 9. 3. 1933 die Firma Noelle & v. Campe, Glashütte, GmbH., mit dem Sitz zu Brückfeld-Boffzen a. Weser, eingetragen. Gesellschaftsvertrag vom 7. 2. 1933. Gegenstand des Unternehmens ist die technische und handelsgeschäftliche Auswertung einer Glashütte. Die Gesellschaft hat einen oder mehrere Geschäftsführer. Zum Geschäftsführer ist der Kaufmann Otto von Campe in Boffzen a. Weser bestellt. Der Geschäftsführer vertritt die Gesellschaft in allen gerichtlichen und außergerichtlichen Angelegenheiten. Sind mehrere Geschäftsführer bestellt, so wird die Gesellschaft durch 2 Geschäftsführer oder durch einen Geschäftsführer und einen Prokuristen vertreten. Stammkapital: 21.700 RM.“ (DRA 1933, Nr. 67 v. 20. März, 10)

1934, 5. Mai:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister B ist bei der Fa. Noelle & v. Campe, GmbH. in Brückfeld-Boffzen a. d. Weser, eingetragen: a) Am 5. 5. 1934: Der bisherige Geschäftsführer Otto von Campe ist abberufen. An seine Stelle ist der Betriebsleiter Eduard Künzl in Boffzen-Brückfeld zum Geschäftsführer bestellt. Zum Prokuristen der Gesellschaft ist der Buchhalter Julius Crummenerl in Boffzen-Brückfeld bestellt.“ (DRA 1934, Nr. 300 v. 27. Dezember, 12)

1934, 10. Dezember:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister B ist bei der Fa. Noelle & v. Campe, GmbH. in Brückfeld-Boffzen a. d. Weser, eingetragen: […] b) Am 10. 12. 1934: Das Stammkapital ist durch Beschluß der Gesellschaft vom 4. 5. 1934 von 21.700,– RM auf 126.000 Reichsmark erhöht. Durch gleichen Beschluß ist § 4 des Ges.-Vertr. (Stammkapital) geändert. §§ 5–15 sind aufgehoben und durch §§ 5–14 ersetzt.“ (DRA 1934, Nr. 300 v. 27. Dezember, 12)

1944, 16. September:

„H.-R. B II 5 Noelle & von Campe, Gesellschaft mit beschränkter Haftung in Brückfeld-Boffzen. Die Prokura des Buchhalters Julius Crummenerl, Boffzen, ist erloschen.“ (DRA 1944, Nr. 217 v. 26. September, 1)

 

Gebrauchsmuster

1880, 31. Mai:

Anmeldung am 19. Mai 1880, erteilt am 31. Mai 1880: „1 Paket mit 2 Mustern für Bierseidel und Glas, Muster für plastische Erzeugnisse, Fabriknummern 13911 und 14011, Schutzfrist 3 Jahre“ (DRA 1880, Nr. 130 v. 5. Juni, 7)

1909, 11. Januar:

Anmeldung Gruppe 64a Nr. 365.089 Konserven- u. dgl. Gefäß (N. 8213) (DRA 1909, Nr. 39 v. 15. Februar, 18)

1911, 3. November:

Verlängerung der Schutzfrist (gegen Zahlung von 60 M) Gruppe 64a Nr. 365.089 Konserven- u. dgl. Gefäß. Beantragt am 11. Januar 1909, Gebühr bezahlt am 3. November 1911 (N. 8213) (DRA 1911, Nr. 279 v. 27. 11, 15)

Verlängerung der Schutzfrist (gegen Zahlung von 60 M) Gruppe 64a Nr. 365.098 Konserven- u. dgl. Gefäß. Beantragt am 13. Januar 1909, Gebühr bezahlt am 3. November 1911 (N. 8219) (DRA 1911, Nr. 279 v. 27. 11, 15)

1927, 3. September:

Anmeldung eines Vogelbadehauses, Fabriknummer 10, Schutzfrist drei Jahre, am 2. September 1927 (DRA 1927, Nr. 215 v. 14. September, 5)

 

Warenzeichen

[NC., B. und Anker] Braunschweig, Herzogliches Handelsgericht – Warenzeichen für weißes und farbiges Hohlglas, Preßglas und gehärtetes Glas. Angemeldet am 25. Oktober 1875, erteilt am 5. Januar 1876 (DRA 1876, Nr. 22 v. 25. Januar, 9)

03_Deutscher Reichsanzeiger_1876_01_25_Nr022_p09_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Warenzeichen_NC_Anker_B

[Anker] (Klasse 29, Nr. 37.141, N. 1025) – Bildzeichen für weißes und farbiges Hohlglas, Preßglas und gehärtetes Glas, mit Ausschluss von Flaschen und Flacons. Angemeldet am 12. August 1898, erteilt am 12. April 1899 (DRA 1899, Nr. 103 v. 2. Mai, 13)

04_Deutscher Reichsanzeiger_1899_05_02_Nr103_p13_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Bildzeichen_Anker

Dr. Dettweiler (Klasse 29, Nr. 39.919, N. 1178) – Taschenflaschen für Hustende. Angemeldet am 8. Mai 1899, erteilt am 27. September 1899 (DRA 1899, Nr. 252, 9)

05_Deutscher Reichsanzeiger_1899_Nr252_p09_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Bildzeichen_Dr-Dettweiler

[Pfeil] (Klasse 29, Nr. 44.154, N. 1282) – Bildzeichen für Kinder-Saugflaschen. Angemeldet am 16. November 1899, erteilt am 6. Juni 1900 (DRA 1900, Nr. 156 v. 3. Juli, 12)

06_Deutscher Reichsanzeiger_1900_06_06_Nr156_p12_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Bildzeichen_Pfeil

Steuerrad (Klasse 29, Nr. 132.222, N. 5203) – Warenzeichen für weißes und farbiges Hohlglas, Pressglas und gehärtetes Glas. Angemeldet am 11. Mai 1910, erteilt am 7. Juli 1910 (DRA 1910, Nr. 167 v. 19. Juli, 14)

07_Deutscher Reichsanzeiger_1910_07_19_Nr167_p14_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Warenzeichen_Steuerrad

Steuerrad (Klasse 29, Nr. 133.681, N. 5202). Bildzeichen für weißes und farbiges Hohlglas, Pressglas und gehärtetes Glas. Angemeldet am 11. Mai 1910, erteilt am 29. August 1910 (DRA 1910, Nr. 212 v. 9. September, 17)

08_Deutscher Reichsanzeiger_1910_09_09_Nr212_p17_Glasindustrie_Noelle-von-Campe_Boffzen_Bildzeichen_Steuerrad

Patente

Verschluss für Konservenbüchsen – Angemeldet am 22. Juni 1879 von Noelle & von Campe (Nr. 8373) (DRA 1879, Nr. 265 v. 11. November, 6)

Verschluss für Konservenbüchsen – Kl. 64, Nr. 19777, Vergabe an Noelle & v. Campe (DRA 1879, Nr. 184 v. 8. August, 3)

Verschluss für Senfbüchsen – Anmeldung am 7. Mai 1880 von Noelle & von Campe (Nr. 6021, Zusatz zu P. R. Nr. 8373, Kl. 64) (DRA 1880, Nr. 106 v. 7. Mai, 8)

Verschluss für Senfbüchsen – Erteilt am 15. Februar 1880 an Noelle & von Campe (Nr. 11782, I. Zusatz zu P. R. 8373) (DRA 1880, Nr. 239 v. 11. Oktober, 7)

Glasblasemaschine – „J.A. Widmer in Berlin, Admiralstr. 19, Hof I. und die Firma Noelle & von Campe in Glashütte Brückfeld, Stat. Fürstenberg a. Weser.“ Erteilt am 4. September 1891 (Klasse 32, Nr. 63.849) (DRA 1892, Nr. 149 v. 27. Juni, 11)

Glaspreß- und Blasform – „Jacob Adolf Widmer in Berlin N., Ackerstraße 133, und die Firma Noelle & von Campe in Glashütte Brückfeld, Station Fürstenberg, Weser.“ Erteilt am 14. November 1891 (W. 8009) (DRA 1892, Nr. 224 v. 22. September, 7)

Glaspreß- und Blasform – „J. A. Widmer in Berlin N., Ackerstr. 133, und die Firma Noelle & von Campe, Glashütten Brückfeld, Station Fürstenberg, Weser.“ Erteilt am 15. November 1891 (Klasse 32, Nr. 66.918) (DRA 1893, Nr. 1 v. 2. Januar, 8)

Konservengefäß – Erteilt am 18. Juni 1910 an Noelle & von Campe (Klasse 64a, Nr. 427.756, N. 9845) (Deutscher Reichsanzeiger 1910, Nr. 160 v. 11. Juli, 14)

Saugflasche – Erteilt am 1. Februar 1911 an Noelle & von Campe (Klasse 30g, Nr. 454.159, N. 10.501) (DRA 1911, Nr. 62 v. 13. März, 19)

 

Aufgebote

1927, 25. August:

Holzminden, Amtsgericht: „Die Handelsgesellschaft Noelle & von Campe, Boffzen, Glasfabrik, Steinbreite bei Höxter, hat das Aufgebot des Hypothekenbriefes über die im Grundbuch von Boffzen Band II Bl. 9 Abt. III Nr. 1 für die Arbeiterkrankenkasse der offenen Handelsgesellschaft Noelle & von Campe, Boffzen, Glasfabrik, Steinbreite bei Höxter, eingetragene Hypothek von 10.000 RM beantragt. Der Inhaber der Urkunde wird aufgefordert, spätestens in dem auf den 19. März 1928, vormittags 9½ Uhr, vor dem unterzeichneten Gericht anberaumten Aufgebotstermin seine Rechte anzumelden und die Urkunde vorzulegen, widrigenfalls die Kraftloserklärung der Urkunde erfolgen wird.“ (DRA 1927, Nr. 208 v. 6. September, 12)

1928, 19. März:

„Durch Ausschlußurteil vom 19. März 1928 ist der Hypothekenbrief über die im Grundbuche von Boffzen Bd. II Bl. 9 Abt. III Nr. 1 für die Arbeiterkrankenkasse der offenen Handelsgesellschaft Noelle & von Campe, Boffzen, Glasfabrik Steinbreite b. Höxter, eingetragene Hypothek von 10.000,– RM für kraftlos erklärt.“ (DRA 1928, Nr. 83 v. 6. April, 3)

 

Becker & Co.

Handelsregistereinträge

1875, 27. Juli:

Braunschweig, Herzogliches Handelsgericht: „Auf Anmeldung ist im Handelsregister für den Amtsgerichtsbezirk Holzminden auf Seite 21 bei der Firma: G. Becker & Co. zu Neuhaus vermerkt, daß das Geschäft von dem bisherigen Geschäftsführer Georg Becker zu Neuhaus an seine Söhne, die bisherigen Prokuristen Carl Becker und Wilhelm Becker daselbst, welche dasselbe als offene Handelsgesellschaft fortbetreiben werden, übertragen ist.“ (DRA 1875, Nr. 175, 5)

1887, 28. Dezember:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „In dem hiesigen Handelsregister ist am heutigen Tage Fol. 21 vermerkt, daß die daselbst eingetragene, zwischen den Kaufleuten Carl Becker und Wilhelm Becker zu Neuhaus unter der Firma G. Becker & Co. mit dem Sitze zu Neuhaus und mit einer Zweigniederlassung zu Rottmünde und Georgshütte bestandene offene Handelsgesellschaft durch gegenseitige Vereinbarung der Gesellschafter mit dem gestrigen Tage aufgelöst ist, und daß das Geschäft der Haupt- und Zweigniederlassungen unter der bisherigen Firma vom Mitgesellschafter Wilhelm Becker auf alleinige Rechnung unter Uebernahme sämmtlicher Aktive und Passiva fortgeführt wird.“ (DRA 1888, Nr. 1 v. 2. Januar, 10)

1888, 23. Juni:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist bei der daselbst eingetragenen Firma: G. Becker & Co zu Neuhaus heute eingetragen, daß dem Kaufmann Otto Klapprodt zur Georgshütte bei Boffzen für genannte Firma Prokura ertheilt worden ist.“ (DRA 1888, Nr. 166 v. 27. Juni, 9)

1902, 3. Februar:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist heute bei der Firma G. Becker & Co. zu Neuhaus eingetragen, daß die Zweigniederlassung in Rottmünde aufgegeben und deshalb gelöscht und daß auf der Georgshütte b. Boffzen eine Zweigniederlassung errichtet ist.“

1902, 27. Februar:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist heute bei der unter Nr. 20 eingetragenen Firma G. Becker & Co. zu Neuhaus vermerkt, daß die Zweigniederlassung auf Georgshütte b. Boffzen gelöscht und die dem Kaufmann Otto Klapproth [sic!, US] auf Georgshütte b. Boffzen ertheilte Prokura erloschen ist.“ (DRA 1902, Nr. 59 v. 10. März, 19)

1902, 9. Mai:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „In das hiesige Handelsregister ist heute bei der Firma G. Becker & Co zu Georgshütte b. Boffzen eingetragen, daß dem Buchhalter Otto Klapprodt zu Georgshütte b. Boffzen Prokura ertheilt ist.“ (DRA 1902, Nr. 114 v. 16. Mai, 14)

1904, 10. Dezember:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „In das hiesige Handelsregister ist heute bei der Firma G. Becker & Co. zu Georgshütte b. Boffzen Fol. 222 in der Spalte „Erlöschen der Prokuren“ folgendes eingetragen: Die dem Buchhalter Otto Klapprodt erteilte Prokura ist erloschen.“ (DRA 1904, Nr. 296 v. 16. Dezember, 16)

1907, 22. Januar:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist heute der Dr. phil. Arno Becker in Neuhaus i. Solling als alleiniger Inhaber der Firma G. Becker & Co in Neuhaus i. Solling eingetragen.“ (DRA 1907, Nr. 29 v. 31. Januar, 19)

1914, 11. August:

Holzminden, Herzogliches Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister A ist unter Nr. 216 bei der Firma G. Becker & Co auf Georgshütte bei Boffzen heute folgendes eingetragen: Dem Buchhalter Otto Höve zu Georgshütte bei Boffzen ist Prokura erteilt.“ (DRA 1914, Nr. 195, 9)

1922:

DESAG-Prospekt 1925: „Von den übrigen M 6.000.000 neuen Stammaktien, […] dienten M 250.000 zum Erwerb der bisher als offene Handelsgesellschaft unter der Firma Becker & Co. in Neuhaus betriebenen Glashütte.“ (DRA 1925, Nr. 69 v. 23. März, 9)

1927, 4. Januar:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handels ist eingetragen: Dr. Becker & Co. G.m.b.H., Tafelglashütte, Neuhaus i. Solling, Sitz das. laut Gesellschaftsvertrag vom 3. 12. 1926. Zweck: Erwerb der Grundstücke der Spiegelglas-A.-G. Freden das. und Betrieb einer Tafelglashütte. Geschäftsführer: Dr. Arno Becker in Neuhaus und Christian Lauritzen in Einbeck, jeder selbständig vertretungsberechtigt. Stammkapital: 45.000 RM mit voll eingezahlten Einlagen von 20-, 10- und 15.000 RM. Prokurist: Ehefrau Dr. Becker in Neuhaus.“ (DRA 1927, Nr. 11 v. 14. Januar, 11)

1927, 21. Februar:

Holzminden, Amtsgericht: „Im hiesigen Handelsregister ist bei der Fa. Deutsche Spiegelglas-A. G. Betrieb Neuhaus, Hauptniederlassung Kl. Freden, Zweigniederlassung Neuhaus i. Soll., eingetragen, daß die Prokura des Dr. Arno Becker in Neuhaus und die Zweigniederlassung der Deutschen Spiegelglas-A. G. Betrieb Neuhaus, nachdem der Betrieb eingestellt sind.“ (DRA 1927, Nr. 57 v. 9. März, 10)

1938, 18. August:

Holzminden, Amtsgericht: „H.-R. A III 19 Fa. G. Becker & Co., Georgshütte b. Boffzen. Das Geschäft ist durch Vertrag vom 25. 7. 1938 mit allen Aktiven und Passiven auf den Fabrikbesitzer Karl August Becker in Boffzen übergegangen.“ (DRA 1938, Nr. 199 v. 27. August, 9)

 

Gebrauchsmuster

1937, 23. November:

Holzminden, Amtsgericht: „In das Musterregister ist am 23. 11. 1937 für die Firma G. Becker & Co., Georgshütte, eingetragen: Versiegeltes Paket, enthaltend 1 Muster für Glasschule Fabrikbezeichnung ‚Ideal‘, plastisches Erzeugnis, Schutzfrist 3 Jahre, angemeldet am 19. 11. 1937, 8,10 Uhr.“ (DRA 1937, Nr. 280 v. 4. Dezember, 1)

 

Patent

Neuerungen am Verschluß von Konservebüchsen – Angemeldet von G. Becker & Co. in Rottmünde am 19. Juli 1880 (Klasse 64, Nr. 9718) (DRA 1880, Nr. 167 v. 19. Juli, 6)

 

Klage

Düsseldorf, Königliches Landgericht: „Die Firma G. Becker & Co. in Neuhaus bei Holzminden, Prozeßbevollmächtiger: Rechtsanwalt Justizrat Dr. Busch in Düsseldorf, klagt gegen die Eheleute Paul Legrand, früher in Düsseldorf, jetzt ohne bekannten Wohn- und Aufenthaltsort, auf Grund der von den Beklagten akzeptierten Wechsel vom 15. April 1913, fällig am 15. Juli 1913, mit dem Antrag auf Zahlung von 1456,56 M nebst 6% Zinsen und 24,32 M Kosten. Die Klägerin ladet die Beklagten zur mündlichen Verhandlung des Rechtsstreits vor die 2. Kammer für Handelssachen des Königlichen Landgerichts in Düsseldorf auf den 30. September 1913, Vormittags 10 Uhr, mit der Aufforderung, sich durch einen bei diesem Gerichte zugelassenen Rechtsanwalt als Prozeßbevollmächtigten vertreten zu lassen.“ (DRA 1913, Nr. 183 v. 5. August, 5)

 

Uwe Spiekermann, 3. März 2021

Konsumgenossenschaften in Deutschland (und in Boffzen) – Ein Überblick

Not war der Ausgangspunkt, Selbsthilfe die Antwort. Mitte des 19. Jahrhunderts fanden sich in aufstrebenden Gewerbe- und Industrieregionen Menschen zusammen, die der Fremdversorgung durch Krämer Besseres entgegensetzen wollten. Handelnd wandten sie sich gegen überteuerte und qualitativ schlechte Lebensmittel, wollten gute Ware für ihr Geld. [1] Anfangs gingen Arbeiter und Bürger Hand in Hand, mieteten ein Ladenlokal, organisierten den Einkauf und Verkauf von Grundnahrungsmitteln. Die Konsumgenossenschaften begannen in der Provinz, in Mitteldeutschland, im Südwesten, 1891 auch im Boffzener Brückfeld. Sie waren Kinder des Liberalismus, wurden in den ersten Jahrzehnten von der aufstrebenden Sozialdemokratie und den konservativ-mittelständischen Kräften gleichermaßen bekämpft. Für die einen waren sie die weiße Salbe des Kapitalismus, der erst beseitigt werden müsse, ehe eine gerechte Welt entstehen könne. Für die anderen bedrohten die Konsumgenossenschaften die bestehende Ordnung, mit dem Handelsstand als Garanten der Alltagsversorgung, dem dafür auch ein gerechter Lohn zustehen würde. Es dauerte Jahrzehnte, ehe die seit 1850 lokal entstehenden Vereine ihre teils aus England, teils aus der deutschen Genossenschaftstradition entlehnten Prinzipen festlegten: Offene Mitgliedschaft, demokratische Verwaltung, Rückvergütung der Überschüsse nach Maßgabe des jeweiligen Einkaufs, beschränkte Verzinsung der Mitgliedseinlage, politische und religiöse Neutralität, Barzahlung beim Einkauf und Förderung der Erziehung der Mitglieder. [2] Die Konsumgenossenschaften standen gegen das Duckmäusertum der monarchischen Ordnung: In der Genossenschaft war der Mensch frei, Gleicher unter Gleichen, Schmied seines eigenen Glückes. Zugleich aber zielten sie auf eine andere, eine solidarische Produktion und einen fairen Konsum, boten damit eine Alternative zum kaum gebändigten Kapitalismus der frühen Industrialisierung.

Bauzeichnung des Gebäudes für den 1891 gegründeten Konsumverein Brückfeld (Archiv der Samtgemeinde Boffzen, unverzeichnet)

Konsumgenossenschaftsbewegung zwischen Emanzipation und Repression

Die Konsumgenossenschaften entwickelten sich bis in die 1880er Jahre nur langsam. Gründe hierfür waren nicht nur die Unerfahrenheit der Mitglieder im Handelssektor, sondern auch die rechtlichen Rahmenbedingungen: Vor dem Genossenschaftsgesetz von 1889 haftete jedes Mitglied persönlich für Verluste oder gar den Bankrott der Konsumgenossenschaft. Seither konnte die Haftung beschränkt werden. Erkauft wurde dies mit dem Verbot des Verkaufs an Nichtmitgliedern. Beides nutzte jedoch der Konsumgenossenschaftsbewegung. Seither konnten auch Arbeiter mit geringem Einkommen und wenig Besitz gefahrlos Mitglieder werden, und die Genossenschaften mussten aktiv um Mitglieder werben. Die Folge war ein rasches Wachstum der im Allgemeinen Verband Deutscher Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften organisierten Vereine: Von 1888 bis 1900 stieg deren Zahl von 198 auf 568, die der Mitglieder gar von 173.000 auf 522.000. [3] Das waren mehr als zwei Millionen Käufer, durfte damals doch nur der Haushaltsvorstand einer Familie beitreten.

Das Größenwachstum veränderte die innere Struktur der Vereine. Das tradierte Gleichgewicht von Bürgern und Arbeitern geriet ins Wanken. Arbeiter, zumal organisatorisch geschulte Kräfte aus der Gewerkschaftsbewegung, übernahmen in immer mehr Vereinen die Mehrheit. Sie aber wollten die Kraft der wachsenden Organisation nutzen, um mehr zu erreichen als billige Lebensmittel: „An die Stelle des Nutzenkalküls trat zunehmend die Vision einer von der Masse der Konsumenten getragenen Veränderung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse.“ [4] Dazu bündelte man einerseits die Einkaufsmacht der Vereine durch die 1894 erfolgte Gründung einer in Hamburg ansässigen Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine (GEG). Anderseits nahmen insbesondere städtische Genossenschaften zuvor vielfach gescheiterte Versuche der Eigenproduktion von Brot und Backwaren, Fleisch und Fleischwaren wieder auf. Als 1899 das Hamburger Gewerkschaftskartell selbstbewusst eine neue Konsumgenossenschaft gründete, war deren Name zielbewusst Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“. Es ging nun um den Aufbau einer wirtschaftlichen und sozialen Gegenwelt: „Schaut der Arbeit Kinder geh’n / Stark und frei daher, / Schlank und rüstig, ernst und schön, / keine Krüppel mehr.“ [5]

Zentrale Einrichtungen in jeder Stadt: Verwaltung, Großhandelslager und Bäckerei des Allgemeinen Consum-Vereins Augsburg und Umgebung 1906 (Frauen-Genossenschaftsblatt 6, 1907, 101)

Damit wurden auch die bisherigen Allianzen zwischen Arbeitern und Unternehmern brüchig, die abseits der allgemeinen Konsumgenossenschaften zu zahlreichen Werkkonsumanstalten geführt hatten: 1869 gab es deren etwa sechzig, bis 1913 sollten es dreihundert werden. [6] In der Montan-, Textil-, Papier- und chemischen Industrie errichteten die Firmenleitungen für ihre Beschäftigten Läden, koppelten diese häufig mit Sparvereinen, subventionierten die Preise und gewährten Prämien für den Aufbau kleiner Rücklagen. Das war betriebliche Sozialpolitik, ein Angebot an eine loyale, und das hieß, möglichst nicht gewerkschaftlich oder sozialdemokratisch organisierte Stammarbeiterschaft. Wie der Arbeiterwohnungsbau hatten auch die Werkkonsumanstalten ein Janusgesicht. Materielle Vorteile wurden gewährt, um die Beschäftigten an das Unternehmen zu binden und zu industriefrommem Verhalten zu verpflichten. Denn der Einkauf in einer Werkkonsumanstalt gründete nicht auf einem Rechtsanspruch, sondern war eine einseitig gewährte Zusatzleistung. Am bekanntesten dürfte wohl die Kruppsche Konsumanstalt in Essen gewesen sein, die 1913 103 Verkaufsstellen hatte und mehr als 1.400 Beschäftigte. [7]

Der Brückfelder Konsumverein war allerdings anders organisiert. Bei ihm handelte es sich um eine Werkkonsumgenossenschaft. Diese wurde von der Glashütte Noelle & von Campe gefördert, war formal jedoch unabhängig. Max Eugen Noelle war eine treibende Kraft der Gründung, wirkte dann auch als Vorsitzender mit. Noelle & von Campe baute 1891 ein eigenes Wohn- und Geschäftshaus, ermöglichte dadurch den Glasarbeitern einen bequemen Einkauf. Doch die Mitgliedschaft war freiwillig, war nicht begrenzt auf die Beschäftigten der Hütte. Zahlreiche Mitglieder stammten aus der Georgshütte, und auch andere Familien Boffzens reihten sich beim Einkauf ein. Der lokale Konsum war gewiss auf das Entgegenkommen der Hütten angewiesen – doch formal war er frei und vertrat im Rahmen des Allgemeinen Verbandes auch eigene Positionen. 1896 protestierte er in einer Reichstagspetition gegen die geplanten Strafbestimmungen beim Verkauf an Nichtmitglieder, wollte man doch an möglichst viele Boffzener verkaufen. [8]

Das 1896 novellierte Genossenschaftsgesetz war Teil einer breit angelegten liberal-konservativen Förderung des Mittelstandes, vornehmlich des Handwerks und des Kleinhandels. Das neue Genossenschaftsgesetz machte den Alkoholverkauf konzessionspflichtig, erließ strikte Strafbestimmungen für den Verkauf an Nichtmitglieder. Wichtiger noch waren zahlreiche Sondersteuerprojekte, mit denen das Wachstum der Konsumgenossenschaften begrenzt werden sollte. Für das Großherzogtum Braunschweig typisch waren Steuern auf breite Sortimente. Von den dortigen 83 Vereinen führten 76 Manufaktur-, 71 Eisenkurzwaren und 46 weitere Gebrauchsgüter, wie Küchenartikel oder Schuhe. Sie standen nun vor der Wahl, Sortimente einzuschränken oder hohe Steuern zu bezahlen. [9] Aus den Konsumgenossenschaften wurden so vornehmlich Lebensmittelgeschäfte. Die Behörden versuchten ferner, sie zu Einkommens- und Gewerbesteuern heranzuziehen – die Genossenschaften an sich nicht zahlen mussten, da sie keine Erwerbszwecke verfolgten. Gerade in Braunschweig war steuerliche Willkür vor dem Ersten Weltkrieg nicht unüblich, war Teil der Disziplinierung aller vermeintlichen Staatsfeinde.

Mittelständisches Pamphlet gegen neue Betriebsformen im Handel 1904 (E[mil] Suchsland, Los von den Konsumvereinen und Warenhäusern!, 8. erw. Aufl., Halle a.d.S. 1904, I)

All diese Debatten mündeten schließlich in die Spaltung der (Konsum-)Genossenschaftsbewegung. Nachdem schon vor der Jahrhundertwende eine wachsende Zahl von Beamtenkonsumvereinen sich von den allgemeinen Vereinen abgegrenzt und Sondervorteile angestrebt hatte, wurden die „Arbeiterkonsumgenossenschaften“ 1902 aus dem Allgemeinen Verband ausgeschlossen, hatten dort doch Handwerker- und Agrargenossenschaften die Mehrheit. Der 1903 gegründete Zentralverband Deutscher Konsumvereine bündelte die große Mehrzahl dieser Konsumgenossenschaften. Damit begann ein fulminantes Wachstum, das auch durch die 1908 erfolgte Neugründung des Verbandes Westdeutscher Konsumvereine nicht gebremst wurde. Als Reichsverband der Konsumvereine vertrat er ab 1913 zahlreiche Vereine aus dem Milieu der christlichen Gewerkschaften und des Katholizismus. Vor dem Ersten Weltkrieg lag der Marktanteil aller Konsumgenossenschaften bei etwa 5% im Lebensmittelsektor, deutlich über dem aller privatwirtschaftlich organisierten Filialgeschäfte. Der Konsumverein Brückfeld machte diesen Schritt in organisatorisches Neuland allerdings nicht mit. Er blieb bis zu dessen Ende Anfang der 1920er Jahre Mitglied im Allgemeinen Verband, schloss sich dann dem Konsumverein Holzminden an, wurde so Mitglied im Zentralverband. Damit war die organisatorische Abkoppelung von den Glashütten gleichsam offiziell.

Der Traum von einer anderen Konsum- und Arbeitskultur

Die organisatorische Neugründung der Konsumgenossenschaftsbewegung hatte schon zuvor zu ihrer langsamen Sozialdemokratisierung geführt. Gleichwohl wurde sie seitens der SPD erst 1910 als dritte Säule der Arbeiterbewegung anerkannt, deutlich später als seitens der freien Gewerkschaften. Obwohl der Zentralverband stets seine politische Neutralität hervorhob, waren die meisten Leitungsfunktionen von pragmatischen Sozialdemokraten besetzt. Sie konzentrierten sich auf zwei zentrale Aspekte: Materiell ging es um den Ausbau einer eigenständigen Welt des Konsums, ideell um realistisch-visionäre Ideen für eine gerechte Welt.

Zeigen, wer man ist: Erste Eigenmarken der Grosseinkaufs-Gesellschaft deutscher Consumvereine 1903 (Frauen-Genossenschaftsblatt 2, 1903, 6 (l.), ebd., 38)

Die GEG wurde zunehmend zur Dachorganisation der lokalen Konsumgenossenschaften. Sie kaufte jedoch nicht nur Waren in großen Partien, um sie billiger verkaufen zu können. Sie schuf auch eigene Handelsmarken, gab der Gegenwelt damit ein Gesicht. Moderate Fortschritte machte auch die Eigenproduktion: 1914 gab es vor Ort immerhin 238 Bäckereien, 37 Fleischereien, 35 Kaffeeröstereien, ferner Müllereien, Abfüllereien, wenige Molkereien, gar drei landwirtschaftliche Güter. [10] Parallel baute man ein konsumgenossenschaftliches Pressewesen auf. Neben wöchentlich erscheinenden Fachzeitschriften (Konsumgenossenschaftliche Rundschau, Konsumgenossenschaftliche Praxis) traten Publikumszeitschriften (Frauen-Genossenschaftsblatt resp. Konsumgenossenschaftliches Volksblatt und Die Genossenschaftsfamilie), die vor dem Ersten Weltkrieg eine wöchentliche Auflage von mehr als 700.000 Exemplaren besaßen. Sie dienten der Agitation und Unterhaltung, gaben manchen Haushaltstipp, vermittelten Warenkunde und klärten Verbraucher über ihre Rechte und Pflichten auf. All das erfolgte ein wenig von oben herab, musste die Hausfrau doch zur treuen Genossenschafterin erst erzogen werden. Und es schuf die Einsicht, die aufgrund der wachsenden Effizienz der Organisation steigenden Gewinne nicht nur jährlich an die Mitglieder auszuzahlen, sondern immer größere Anteile für Investitionen zu nutzen. Die Leitungskader bauten entsprechende Aus- und Fortbildungskapazitäten auch für die Funktionäre auf. Ausbildung und Betriebsstatistik suchten im Deutschen Reich ihresgleichen. Und 1910 setzte schließlich die zentrale Eigenfabrikation der GEG ein, die Seifen, Tabakwaren, Senf und Zündhölzer, Nudeln und Verpackungsmaterialen für alle Vereine und als einheitliche Handelsmarken herstellte.

Gegenmacht: Mitgliederwerbung während der Agitation gegen die Lebensmittelteuerung 1907 (Vorwärts 1907, Nr. 240 v. 13. Oktober, 14)

Warum dies alles? Nur für höhere Effizienz und preiswerte Waren? Nein, so die Antwort führender Theoretiker wie Heinrich Kaufmann und vor allem Franz Staudinger. „Die Genossenschaft ist der Friede“ hieß es selbstbewusst – und es war dies die Idee einer Gemeinschaft der Gleichen, die ihre materielle Lebenssituation selbstbestimmt verbesserte und sich zugleich bildete und sittlich hob. Eine Gesellschaft, in der Argumente zählten, am Ende ein vernünftiger Kompromiss stand. Man mag über diesen Idealismus spöttisch lächeln, doch war allen nur zu bewusst, dass dieses hehre Ideal in Kämpfen errungen werden musste. Die Gemeinwirtschaft sei der Profitwirtschaft überlegen, sie ziele nicht auf lautstark tönende Werbung und aggressive Marktpräsenz, sondern auf die Überzeugungskraft guter Ware, niedriger Preise und der Vision einer gerechten und wohlhabenden Gesellschaft. Wenn Sie mehr wissen wollen, lesen sie doch einfach mal nach, in den alten verstaubten Büchern und Artikeln. [11]

Mitglieder- und Umsatzbewegung der führenden Konsumvereinsverbände 1864-1930 (berechnet n. Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 705-709)

Während des Ersten Weltkriegs zeigte sich, dass die Konsumgenossenschafter nicht nur von einer besseren Welt träumen konnten. Die überlegene Organisation war ein wichtiger Faktor in der Rationierung, in der Kriegsernährungswirtschaft. Die Revolution 1918 wurde von ihnen begrüßt, doch sie plädierten für Mäßigung, für eine parlamentarische Demokratie. Die Weimarer Republik beendete manche rechtliche Willkür der Vorkriegszeit, schuf jedoch keine Gemeinwirtschaft. Die Konsumgenossenschaften selbst opferten, zumal während der Inflation, große Teile ihres Kapitals und ihrer Rentabilität, um ihre wachsende Mitgliederzahl – 1923 hatte der Zentralverband 3,4 Mio. Mitglieder, der Reichsverband mehr als 800.000 – auskömmlich zu versorgen. Ab 1924 begannen umfassende Rationalisierungen, nicht kaufende Mitglieder, die sog. „Papiersoldaten“, wurden ausgeschlossen. Die Eigenproduktion wurde massiv ausgebaut [12], die GEG entwickelte sich zum größten Lebensmittelproduzenten Kontinentaleuropas. Die Filialnetze in den größeren Städten umfassten vielfach mehrere hundert Läden. Getragen wurde all dies von starken Milieus der Sozialdemokratie und des Zentrums. 1930 kauften mehr als 10 Millionen Menschen bei den Konsumgenossenschaften, lag ihr Marktanteil im Lebensmittelhandel bei mehr als 10%, nahm ihre Bedeutung im Gebrauchsgüterhandel rasch zu. [13] Zukunftssicher und überzeugt von der Überlegenheit des eigenen Wirtschaftens wurden die Investitionen zu Beginn der Weltwirtschaftskrise nicht zurückgefahren. Die zahlreichen, im Stil des „Neuen Bauens“ gestalteten Fabrik- und Lagergebäude zeugten vom Glauben der Genossenschafter an ein von ihnen gestaltetes Morgen.

Eine produktive Gesellschaft garantiert Wohlstand für alle (Konsumgenossenschaftliches Volksblatt 22, 1929, 193)

Die Weltwirtschaftskrise traf die Konsumgenossenschaften spät, noch 1930 erwirtschafteten sie Überschüsse. Dann aber traf sie der wirtschaftliche Niedergang mit voller Wucht, wurden ihre Mitglieder doch überdurchschnittlich arbeitslos. Die Organisationen reagierten ungläubig, doch solidarisch. Wie schon während der Kriegs- und Inflationsjahre schonten die Konsumgenossenschaften sich nicht, ließen die Mitglieder anschreiben, halfen die Not zu begrenzen. Die Verbrauchergenossenschaft Holzminden, deren Mitglied der Boffzener Konsum unterdessen geworden war, konnte die Ausfälle von etwa 20% der Umsätze 1932/33 erst Ende der 1930er Jahre abtragen. [14] Sie trug demnach einen Teil der Lasten der völligen bzw. teilweisen Stilllegung von Noelle & von Campe bzw. der Georgshütte. Die Mitgliederzahlen aller Konsumgenossenschaften sanken dennoch, teils wegen der Einlagen, teils wegen des prinzipiellen Anschreibens im gewerblichen Einzelhandel. Kleine Teile der Mitglieder traten auch aus politischen Gründen aus, fundamentaloppositionelle Kommunisten einerseits, Nationalsozialisten anderseits. Hinzu kamen massive finanzielle Probleme, schrieben die Eigenbetriebe doch tiefrote Zahlen, halbierten die Mitglieder die Einlagen ihrer Sparkonten. Doch die eigentliche Bewährungsprobe war politischer Natur, denn die Konsumgenossenschaften gehörten zu den sog. unerwünschten Betriebsformen, die die NSDAP und die DNVP zu beseitigen versprachen.

Drangsalierung, Selbstgleichschaltung und Verbot – Konsumgenossenschaften während der NS-Zeit

Das konservativ-nationalsozialistische Kabinett Hitler führte seit Anfang 1933 die mittelstandsfreundliche Politik der vorhergehenden Präsidialdiktatur fort. Sondersteuern auf Großbetriebe wurden verdoppelt, Ausverkäufe drastisch eingeschränkt, seit 1934 waren Einzelhandelsgeschäfte konzessionspflichtig. Die Konsumgenossenschaften wurden nicht verboten, doch ihre Arbeit massiv eingeschränkt – nachdem ihr Personal zahllosen Übergriffen und willkürlichen Verhaftungen ausgesetzt war. [15] Dennoch wurde die Organisation nicht nur mit Zwang gleichgeschaltet, sondern ordnete sich vielfach willig in die Strukturen des NS-Staates ein. Dieser führte Zentralverband und Reichsverband zu einer Einheitsorganisation zusammen, dem Reichsbund der deutschen Verbrauchergenossenschaften. Der Begriff Konsumgenossenschaft wurde durch den der Verbrauchergenossenschaft ersetzt, und mit dem Rabattgesetz von 1934 begrenzten die Machthaber die jährlichen Rückvergütungen auf höchstens 3%. Das Gesetz über Verbrauchergenossenschaften von 1935 ordnete schließlich die Auflösung von 82 großen Konsumgenossenschaften an. Damit wurden 40% des Umsatzes privatisiert bzw. in Auffanggesellschaften überführt, der verbliebene Rest jedoch stabilisiert. Zugleich wurde den nun nach dem Führerprinzip geleiteten Vereinen untersagt, Sparkassen zu unterhalten. Damit unterminierte man die Eigenkapitalbildung der Genossenschaften neuerlich.

Nach der Selbstgleichschaltung: Warenausstellung der Verbrauchergenossenschaft „Eintracht“, Bocholt im Dezember 1933 (Rundschau des Reichsbundes der deutschen Verbrauchergenossenschaften 31, 1934, 23)

All dies schlug sich auch im Weserbergland nieder. Die Verbrauchergenossenschaft Holzminden musste ihre Schlachterei verpachten, während sich die Auflösung der Sparkonten noch bis Ende der 1930er Jahre hinzog. [16] Die Ende 1935 vorsorglich beantragte Auflösung wurde jedoch nicht vollzogen, stattdessen die Organisation durch Kredite der GEG und staatlicher Stellen auf einem gegenüber 1930 fast halbierten Niveau konsolidiert. Für die Geschäfte vor Ort – und die 1937 mehr als 200 Boffzener Mitglieder – bedeutete all dies ein Ende ihrer Sonderstellung, eine Abkehr von der konsumgenossenschaftlichen Vision einer anderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Auch in Boffzen hieß es nun gleichtönend blökend: „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. Das galt natürlich nicht für alle, denn als 1941 die noch bestehenden Genossenschaften in das Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront überführt wurden, fanden Filetstücke rasch Investoren. Die Mehrzahl der Genossenschaften blieb aber bis 1945 Teil der nationalsozialistischen Zwangsorganisation.

Neuformierung in beiden deutschen Staaten

Nach der Befreiung hofften die Konsumgenossenschaften auf einen Neubeginn. Die Besatzungsmächte revidierten die meisten diskriminierenden NS-Gesetze, neuerlich übernahm man die Aufgabe, die Grundversorgung sicherzustellen, kämpfte aber zugleich jahrelang um die Restitution des früheren Eigentums. Am Gedanken der Einheitskonsumgenossenschaft hielt man fest, übernahm zugleich die vielfältigen Anregungen des Auslandes, zumal der skandinavischen und der Schweizer Schwesterorganisationen. Entsprechend wurden die Konsumgenossenschaften seit den späten 1940er Jahren zu den Wegbereitern der Selbstbedienung. Gleichwohl waren die Probleme des Neuaufbaus offenbar. Die Mitgliedsbasis war zerstoben, sie wieder herzustellen wurde versucht: Doch dies glückte nur zum Teil, waren tradierte Arbeitermilieus doch zerbrochen. Hinzu kam die unvollständige Auseinandersetzung mit der eigenen Kollaboration im Nationalsozialismus, die allzu viele personelle Kontinuitäten erlaubte. Intellektuell blieb die Bewegung den Ideen der späten 1920er Jahren verhaftet. Es galt die Eigenproduktion fortzuführen, ja auszubauen, unabhängig davon, ob die dort hergestellten Produkte noch zeitgemäß waren. Die GEG unterhielt gar eine eigene Fischereiflotte, folgte damit der NS-Fischpolitik. Und die Marinaden wurden teils in Gläsern verkauft, die Noelle & von Campe in Boffzen produziert hatte. Die Grundversorgung der Mitglieder wurde breit gefasst, ein eigens gegründeter Versandhandel bot Haushalts- und Elektrogeräte sowie Textilien an.

Konsumgenossenschaften als Teil der neuen Bundesrepublik Deutschland (Der Verbraucher 19, 1959, Nr. 25, I)

All das gründete auf Illusionen kontinuierlichen Wachstums. Doch der „Konsum“ konnte nach einer raschen Wachstumsphase Anfang der 1950er Jahre keine weiteren Marktanteile gewinnen (1960 ca. 3,7%), verlor gar seit Anfang der 1960er Jahre relativ an Bedeutung – und das trotz 1960 2,6 Millionen Mitgliedern. [17] Der Grund hierfür lag zum einen im veränderten Wettbewerb. Die ehedem kleinbetriebliche Konkurrenz schloss sich nicht mehr allein in Einkaufsgenossenschaften wie der Edeka oder der Rewe zusammen, sondern es entstanden vom Großhandel geleitete freiwillige Ketten, wie etwa die Spar. Der Konsum verlor die Preisführerschaft, lange bevor Lebensmitteldiscounter in den 1960er Jahren ganz neue Wege gingen. Zum anderen verschlechterte sich mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland der politische Rahmen neuerlich. Höhepunkt der mittelständischen Interessenpolitik war gewiss das Rabattgesetz von 1954. Die Adenauer-Regierung setzte damit die von den Alliierten suspendierte NS-Gesetzgebung wieder in Kraft, begrenzte die jährliche Rückvergütung wieder auf 3%, verbot neuerlich Spareinrichtungen. Damit versetzte man der Kapitalbildung einen entscheidenden Schlag, just als es darum ging, die bestehenden Geschäfte in die neue Konsumwelt der Selbstbedienung zu führen. Parallel wurde der Verkauf an Nichtmitglieder erlaubt. Das klang schön, unterminierte jedoch Versuche, die tradierte Genossenschaftskultur wieder aufzubauen. Die Konsumgenossenschaften wurden so Geschäfte wie andere auch, mit guten und preiswerten Waren, gewiss, doch zunehmend altbacken, denunziert als „Arme-Leute-Läden“.

Die Coop AG als Vorreiter der Einkaufzentren (Der Verbraucher 26, 1972, Nr. 2, 1)

Die Folge waren langwierige Modernisierungsdebatten – und die Förderung großbetrieblicher Einzelhandelsformen. [18] Der Konsum wurde in den 1960er Jahren Vorreiter der SB-Warenhäuser und Einkaufszentren. Zusammen mit der gewerkschaftlichen Baugenossenschaft Neue Heimat investierten die Konsumgenossenschaften massiv in Neubaugebieten, verschrieben sich dem Ideal der automobilen Stadt und effizienter Großläden. Parallel aber dünnte man das bestehende Filialnetz aus, trennte sich von zahllosen kleinen Konsumläden, verlor damit Präsenz vor Ort. 1969 änderte die Organisation ihren Namen in Coop, neue Rechtsformen schlossen sich an. 1974 wurde die Coop AG gegründet, schienen nur so die immensen Investitionen finanzierbar zu sein. „Der Lebensmittelhandel ist in hohem Maße verkaufsflächenexpansiv und investitionsintensiv geworden … Mit ihrer begrenzten Eigenkapitalbasis können Konsumgenossenschaften den wachsenden Kapitalbedarf in ihrer Rechtsform nicht mehr decken … Die Rückvergütungsgewährung mußte aufgegeben, die Diskontpolitik forciert, die Kapitalbeschaffung gesichert werden“ [19] – so begründete 1974 auch der frühere Konsum-, Bau- und Sparverein Produktion in Hamburg seine Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Es folgten weitere Krisenjahre, ehe die Geschichte der deutschen Coop AG 1989 in einem Abgrund von Wirtschaftskriminalität endete. Die Geschäfte gingen an die Metro-Gruppe über. Deutlich positiver war die Entwicklung der Coop eG, einer Reihe teils großer Regionalgenossenschaften. Doch auch sie wurden in den letzten zwei Jahrzehnten teils von Edeka, teils von Rewe übernommen.

Rasches Wachstum unter staatlicher Protektion: Konsumläden in der DDR (Der Handel 5, 1955, Nr. 23, 5)

In der früheren DDR endete die Geschichte der organisierten Konsumgenossenschaftsbewegung mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch der maroden sozialistischen Diktatur. In der sowjetischen Besatzungszone dominierten die neu konstituierten Vereine neben dem privaten Einzelhandel den legalen Handel der Nachkriegszeit. Sie blieben jedoch fest in Händen von Staat und SED. Seit November 1948 trat die staatliche Handelsorganisation (HO) an deren Seite. Sie verkaufte Mangelwaren ohne Bezugsscheine zu höheren Preisen, half damit den Schwarzmarkt nach und nach auszutrocknen. HO und Konsumgenossenschaften erhielten einen Großteil der staatlichen Investitionsmittel, sie wurden entsprechend Wegbereiter einer nur sehr verhaltenen Modernisierung des Handels, die jedoch ebenfalls den Weg in die Selbstbedienung vollzog. [20] Die Konsumgenossenschaften profitierten von der steten Sozialisierung des selbständigen Einzelhandels. Ihr Marktanteil stieg von 14% 1946 auf 34% 1965, fiel allerdings deutlich hinter die Handelsorganisation zurück. Das Filialnetz des Konsums bestand vielfach aus kaum modernisierten Kleinläden, auch wenn in den Großstädten repräsentative Warenhäuser entstanden. Neben Lebensmittelgeschäften gab es zahlreiche Spezialgeschäfte für Gebrauchsgüter. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik kollabierte die Organisation rasch, auch wenn sich regionale Gruppen bis heute erfolgreich im Markt behaupten. [21]

Nach vielen Umbauten – das Gebäude des früheren Konsumvereins Brückfeld im Oktober 2020 (Foto: Uwe Spiekermann)

In Boffzen spiegelten sich auch diese allgemeinen Veränderungen. Der lokale Konsum wurde nach dem Kriegsende Mitglied der neu gegründeten Konsumgenossenschaft Weserbergland mit Sitz in Stadtoldendorf. Diese war größer und leistungsfähiger als der frühere Holzmindener Verein, errichtete später auch einen zweiten Konsumladen im Boffzener Unterdorf, an der Oberen Dorfstraße. [22] Die frühere Werkkonsumgenossenschaft im Hause von Noelle & von Campe am Sollingtor wurde in den 1950er Jahren zum „Konsum“, ab 1969 dann zum Coop, ehe sie von einem privaten Einzelhändler übernommen wurde. In Boffzen endete die Konsumgenossenschaftsgeschichte damit früher als im Bundesgebiet. Der kleine Laden steht für die tiefgreifenden Veränderungen des Alltagskonsums und der Lebenszuschnitte im letzten Jahrhundert. Dass neue alltagprägende Konsumgenossenschaften wieder entstehen werden, ist unwahrscheinlich. Und doch, wer weiß schon, was passiert, wenn sich freie Menschen wieder zu gemeinsamen Zielen zusammenschließen…

Uwe Spiekermann, 19. Oktober 2020

Anmerkungen
[1] Uwe Spiekermann, Medium der Solidarität. Die Werbung der Konsumgenossenschaften 1903-1933, in: Peter Borscheid und Clemens Wischermann (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, 150-189, insb. 151-152.
[2] Uwe Spiekermann, Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850-1914, München 1999, 241-247; Michael Prinz, Brot und Dividende. Konsumvereine in Deutschland und England vor 1914, Göttingen 1996, 106-206.
[3] Erwin Hasselmann, Geschichte der deutschen Konsumgenossenschaften, Frankfurt a.M. 1971. 705.
[4] Uwe Spiekermann und Dörthe Stockhaus, Konsumvereinsberichte – Eine neue Quelle der Ernährungsgeschichte, in: Dirk Reinhardt, Uwe Spiekermann und Ulrike Thoms (Hg.), Neue Wege zur Ernährungsgeschichte, Frankfurt a.M. et al. 1993, 88-112, hier 92.
[5] Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ zu Hamburg e.G.m.b.H. Geschäftsbericht für das 10. Geschäftsjahr 1908 […], Hamburg o.J. (1909), 119.
[6] Der Großeinkauf von Lebensmitteln und Bedarfsartikeln für die Arbeiterschaft, namentlich auch die Fabrikkonsumanstalten, Concordia 21, 1914, 261-266, hier 262.
[7] Wilhelm Adickes, Werkkonsumanstalt und Konsumgenossenschaft in Essen a.d. Ruhr, RStaatsw. Diss. Tübingen 1931.
[8] Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 9. Leg. , IV. Sess. 1895/97, Bd. 152, Anlagenbd. 2, Berlin 1896, Nr. 285, 1540.
[9] Kolonialwaaren-Kleinhandel und Konsumvereine. Untersuchungen unter Mitwirkung der Handelskammern Brandenburg, Magdeburg, Nordhausen, Hildesheim und Hildburghausen, hg. v.d. Handelskammer für das Herzogthum Braunschweig, Leipzig 1901, 39.
[10] Kurt Walter, Die konsumgenossenschaftliche Eigenproduktion in Deutschland, WiSo. Diss. Frankfurt a.M. o.O. o.J., 47-52.
[11] Als Einstieg kann dienen Franz Staudinger, Die Konsumgenossenschaft, Leipzig 1908.
[12] Uwe Spiekermann, Eine andere Moderne – Ein Besuch der früheren Konsummühle Magdeburg, 2019 (https://uwe-spiekermann.com/2019/02/23/eine-andere-moderne-ein-besuch-der-frueheren-konsummuehle-magdeburg/) [Abruf 18. Oktober 2020].
[13] Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich, Bramsche 2000, 191-210.
[14] Bericht über die gesetzliche Prüfung der Verbrauchergenossenschaft Holzminden, e.G.m.b.H. in Holzminden, in der Zeit vom 24.-25. März und vom 30. März-1. April 1937, 20 (Bundesarchiv Lichterfelde R 3101 / 10722: Verbrauchergenossenschaft Holzminden eGmbH).
[15] Ulrich Kurzer, Nationalsozialismus und Konsumgenossenschaften. Gleichschaltung, Sanierung und Teilliquidation zwischen 1933 und 1936, Pfaffenweiler 1997; Jan-Frederik Korf, Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswerk der Deutschen Arbeitsfront, Norderstedt 2008.
[16] Bericht über die gesetzliche Prüfung der Verbrauchergenossenschaft Holzminden, e.G.m.b.H. in Holzminden, in der Zeit vom 24.-25. März und vom 30. März-1. April 1937 (Bundesarchiv Lichterfelde R 3101 / 10722: Verbrauchergenossenschaft Holzminden eGmbH).
[17] Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel im 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, hier 102-104.
[18] Michael Prinz, Das Ende der Konsumvereine in der Bundesrepublik Deutschland. Traditionelle Konsumentenorganisation in der historischen Kontinuität, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1993, H. 2, 159-188.
[19] COOP Verbraucher Aktiengesellschaft Frankfurt. Geschäftsbericht 1982, o.O. 1983, 26.
[20] Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001, 25-33. KONSUM. Konsumgenossenschaften in der DDR, hg. v. Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Köln, Weimar und Wien 2006; Witho Holland, Die Konsumgenossenschaft in der DDR. Rechtliche und wirtschaftliche Entwicklung, Marburg 2008.
[21] Manfred Kirsch, Die Marken bitte! KONSUM Geschichten, Berlin 2004.
[22] Einwohner-Adreßbuch für Stadt und Kreis Holzminden, Holzminden 1960, 340.

Selbstbedienung als Marktchance. Glasverpackungen während der 1950er und 1960er Jahre

Glas hat eine lange Tradition, doch Traditionsfixiertheit ist eine Gefahr für den Absatz. Die Sollinger Waldglashütten oder aber die handwerklich arbeitenden Boffzener Glashütten des späten 19. Jahrhunderts stellten Waren her, die in späteren Zeiten nicht hätten verkauft werden können. Die Glasproduktion wandelte sich, andere Produkte wurden möglich und nötig, wurden billiger und damit Alltagsgüter. Die Glasverpackung ist dafür ein gutes Beispiel. Die Boffzener Hohlglashütten produzierten zuerst Flaschen, doch insbesondere Noelle & von Campe konzentrierte sich in den 1950er und 1960er Jahren zunehmend auf Sichtverpackungen für Lebensmittel.

Ein scheinbar idealer Verpackungsstoff

Glas ist ein recht idealer Werkstoff für Verpackungen, für sog. Behälterware. Glänzend und durchsichtig symbolisiert es Offenheit, etwas Schönes: „Es ist ein alter Sehnsuchtstraum des Verbrauchers, besonders aber der Hausfrau, daß man immer sehen will, was man kauft.“ [1] Die Durchsichtigkeit des Glases stand in der Zwischenkriegszeit für Sauberkeit und Reinheit, für einfache Reinigung und Hygiene. Im Gegensatz zu anderen Verpackungsmaterialien nahm Glas keinen Geruch an, veränderte nicht den Geschmack des Verwahrgutes. Seitens der Hersteller verwies man durchaus stolz auf Maßgenauigkeit, Temperaturwechselbeständigkeit, Druckfestigkeit, Stoßfestigkeit und chemische Widerstandsfähigkeit. [2] Ein wichtiges Plus war auch, dass Glas formbar war. Der Werkstoff konnte vereinheitlicht und normiert werden, ermöglichte aber auch Abweichungen, ungewöhnliche Formen, eingeprägte Beschriftungen, Verzierungen aller Art.

Es gab jedoch auch Nachteile, gewiss. Glas konnte brechen, dann Käufer gar verletzen. Es war relativ schwer, so dass die Transportkosten höher lagen. Genauere chemische Analysen ergaben in der Zwischenzeit – aber auch später – dass insbesondere saure Lebensmittel durchaus mit dem Glas reagierten. Glas war, zumal wenn es per Hand oder aber halbautomatisch hergestellt wurde, teurer als andere Verpackungsmaterialien, insbesondere als Pappschachteln. Das schöne Gefäß, die schöne Flasche wurden zudem auch im Haushalt weiterverwendet, dienten als Ort für allerhand Dinge, für Marmeladen und als Trinkgefäße. Das missfiel vielen Herstellern, die ihre Verpackung lange Zeit als Eigentum verstanden, die möglichst, gegen ein kleines Pfand, zurückgegeben werden sollte. Auch das gängige Umfüllen von anderen Produkten in alte Gläser war ein Problem, zumal wenn es sich um Essigessenz, Farben oder Heilmittel handelte.

Die Glasindustrie, vorrangig die forschungsaktiven Großbetriebe, war bemüht, diese Nachteile zu verringern. Neue Rezepturen und leistungsfähigere Maschinen verbesserten das Material, machten es weniger anfällig für Säuren. Die zunehmende Abkehr von Handarbeit erlaubte niedrigere Preise. Schon in den späten 1920er Jahren gab es quasi unzerbrechliche biegsame Glassorten, auch wenn diese nicht für Verpackungszwecke eingesetzt wurden. [3] Mitte der 1950er Jahre setzte sich dann Leichtglas durch, stabil und zugleich bis zu 40% leichter als herkömmliches Glas. Auch die Glasverschlüsse wurden damals deutlich besser, teils durch präziser arbeitende Maschinen, teils durch Kombination mit Metall und Kunststoffen.

Es verwundert daher nicht, dass schon kurz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, 1952, 53% der Glaserzeugung und gar 84% der in Boffzen dominierenden Hohlglasproduktion auf Verpackungsglas entfielen. Fast drei Viertel davon waren Getränkeflaschen, ein Achtel Medizinalglas und 15 % sogenanntes Konservenglas. Darunter fasste man auch Verkaufsverpackungen, etwa für Marmelade und Honig. [4] Glas war zu dieser Zeit die bevorzugte Verpackung für flüssige und zähflüssige Waren. Das waren wichtige Segmente, doch sie umfassten weniger als ein Zehntel des Verpackungsmittelmarktes. Ab Mitte der 1950er Jahre veränderte die Selbstbedienung allerdings die bisherigen Rahmenbedingungen. Verpackungen erhielten neue Aufgaben, sollten nicht mehr vorrangig die Ware schützen: „Die Warenverpackung soll den Einkaufsvorgang beschleunigen, sie soll verbrauchsgerecht sein, soll über den Packungsinhalt schnell Auskunft geben, soll für Qualität und Menge garantieren und über ihre eigentliche Funktion hinaus womöglich noch einen Sekundärnutzen als Behälter, Küchengerätschaft, Spielzeug etc. bieten.“ [5]

Der lange Weg zu Selbstbedienung und Sichtverpackungen

Schon lange vor der Durchsetzung der Selbstbedienung in den späten 1950er Jahren hatten sich im Handel verpackte Waren durchgesetzt. Markenartikel setzten seit den 1890er Jahren den Trend, lediglich Frischwaren und Landesprodukte bildeten Ausnahmen. Daneben verpackten viele Großhändler und vor allem Einzelhändler, doch dann ging es vornehmlich um den Schutz und die Bezeichnung der Ware. Die meisten Verpackungen bestanden aus Papier, Pappe und verzinntem Blech, mochte das durchsichtige Cellophan seit den späten 1920er Jahren auch für andere Akzente sorgen. [6] Glas deckte Nischen des Verpackungsmarktes ab, etwa im Medizinalsektor, stand eher für teurere Waren. Die große Ausnahme bildeten Getränkeflaschen, zumal nachdem die in den USA entwickelten Owens-Maschinen deren Preise vor dem Ersten Weltkrieg deutlich verringerten. Bier, Spirituosen, Wein, Sekt und Mineralwässer wurden verstärkt in Flaschen verpackt, ersetzten Siphons und Fässer, Steingut und Behälter der Kunden. Doch all dies erfolgte langsam: Noch Ende der 1920er Jahre lag der Flaschenbieranteil hierzulande zwischen 15 und 25 %. Glasverpackungen erlaubten jedoch nicht nur häuslichen Konsum, sondern sie galten auch als hygienisch. Das betraf etwa Säuglings- und Kindermilch, zumal nach dem Pasteurisierungszwang ab 1930.

Typisch für die Zwischenkriegszeit: Einzelhändler, Verkaufsregal und Pappverpackungen (Deutsche Handelsrundschau 30, 1937, Nr. 3)

Glasverpackungen wurden während des Nationalsozialismus staatlich propagiert, galt es doch Devisen zu sparen. Während Holz und Zinn großenteils importiert werden mussten, entstammten Quarzsand, Soda und Kalk heimischer Produktion. Dennoch blieb der Anteil der Glasverpackungen im Einzelhandel begrenzt. Waren wurden damals noch über die Bedienungstheke verkauft. Der Käufer nannte seine Wünsche, Händler oder Verkäufer holten die Waren dann aus Regalen und Verkaufstruhen, händigten sie anschließend aus. All das kostete Zeit, erlaubte ein Schwätzchen, hatte jedoch auch Folgen für die Warenverpackungen: Sie mussten haltbar und kostengünstig sein, zudem klar erkennbar. Sichtverpackungen nahmen zwar zu, doch in den meist kleinen, selten über 50 m² großen Läden war schlicht nicht der Platz für ausladende Verkaufstruhen. Sie blieben Schnitt- und Stückwaren vorbehalten, bargen Feinkost, nicht Massengüter.

Glas konnte während der NS-Zeit selbst Blechdosen nicht verdrängen, da diese schlicht robuster waren. Glasdosen hatten in den späten 1930er Jahren Verlustraten zwischen zwei und drei Prozent – und entsprechende Verluste knapper Lebensmittel wollte und konnte man nicht riskieren. [7] Glas konnte sich als Verpackung aber auch deshalb nicht durchsetzen, da mit dem wasserdichten Cellophan seit 1927 eine durchsichtige, ästhetisch-ansprechende und hygienische Alternative bestand. Es gewann jedoch indirekt: Statt industriell eingedoster Waren propagierte das NS-Regime die heimische Konservierung von Lebensmitteln, das Einmachen. Die Absatzzahlen von Konservierungsgläsern erreichten in den 1930er und 1940er Jahren historische Höchstwerte – und die Boffzener Glashütten stellten sich hierauf ein.

Behälterglaswerbung Mitte der 1950er Jahre (Die Neue Verpackung 9, 1956, 198)

Einkaufen hieß bis in die späten 1960er Jahre vor allem bedient werden, der Boffzener Konsum-, dann Coop-Laden ist dafür ein gutes Beispiel. Die heute dominante Selbstbedienung ließ lange auf sich warten. Sie entstand 1916 in den USA, eingeführt von Massenfilialisten für billige und einfache Grundnahrungsmittel. In den 1940er Jahren waren Schweden, Großbritannien und die Schweiz Vorreiter, westdeutsche Konsumgenossenschaften folgten ab 1949. In den vier Jahrzehnten zuvor wurde die neue, „amerikanische“ Art des Verkaufens zwar immer wieder diskutiert, praktische Versuche aber blieben Ausnahmen: Während des Zweiten Weltkrieges dienten die sogenannten Ratio- und Einmannbetriebe vor allem der Freisetzung von Arbeitskräften für Wehrmacht und Rüstung. [8]

Selbstbedienung stand in der Nachkriegszeit also für Kriegswirtschaft und ausländische Einflüsse. Eine Umstellung von Läden war teuer, zumal größere Verkaufslokale kaum zur Verfügung standen. Entsprechend stockte die „Self-Service Revolution“. [9] 1950 gab es in der Bundesrepublik 39, 1955 erst 738 SB-Läden. [10] Die Gründe hierfür waren im System der Selbstbedienung zu suchen. Es handelte sich nämlich nicht um Veränderungen allein im Laden, sondern es ging um ein zusammenhängendes und ineinandergreifendes System von Produzenten, Verpackungsindustrie, Groß- und Einzelhandel so­wie der Konsumenten. Die Selbstbedienung er­forderte nicht zuletzt andere und anders verpackte Lebensmittel. Präziseres Wissen über die Lebensmittel und ihre Verän­derungen in einzelnen Verpackungen waren nötig, ansonsten war der Inhalt unansehnlich und wenig attraktiv. Hinzu kamen anfangs skeptische Verbraucher: Noch 1958 bevorzugten fast drei Fünftel Bedienung durch Verkaufspersonal, wollten nicht selbst Teil einer Verkaufsmaschinerie werden. [11]

Entsprechend setzte sich die Selbstbedienung in der Bundesrepublik Deutschland erst in den 1960er Jahren durch, mit gewisser Zeitverzögerung auch in der DDR. [12] 1968 über­stieg die Zahl der Selbstbedienungsläden erstmals die der Bedienungsläden. Das Verhältnis von Kunde und Ware änderte sich. An die Stelle der Verkaufs­kräfte und ihres Wissens traten nun die Warenkunde des Käufers, die Grundinformatio­nen der Kennzeichnung und das Image des Produktes. Läden wurden neu gestaltet und wissenschaftlich optimiert. Offene Warenregale, Verkaufs­gondeln und zunehmend Kühltruhen bzw. Kühlmöbel prägten den Laden, an die Stelle der Bedienungstheke traten Kassentisch bzw. Registrierkassen am Ausgang. Die Läden wurden rasch größer, übertrafen anfangs 200 m², gegen Ende der 1950er Jahren dann schon 1.000 m². Der Lebensmitteleinkauf wurde scheinbar eigenbestimmter, da die Auswahl wuchs, die Produkte sicht- und greifbar waren und es keinen Kaufzwang gab. Doch des Kunden Wege und Blicke wurden kühl kalkuliert, folgten psychologischer Expertise. Laufwege wurden faktisch vorgegeben und die Blickführung auf die Produkte optimiert.

Die Konsumentin und die Glasverpackung – Werbung 1956 (Die Neue Verpackung 9, 1956, 445)

Die Selbstbedienung erforderte durchweg verpackte Lebensmittel – und das neue Verkaufsumfeld schien wie gemacht für die Glasverpackung: „Die Hausfrau wandelt wie eine vielumworbene Fürstin mit kritischen Blicken durch die Gänge und prüft, ehe sie sich zum Kauf entschließt, indem sie die einzelne Packung in die Hand nimmt. Und jetzt kommt das Moment, daß in starkem Maße den Ausschlag für die Kaufentscheidung gibt: Sie will sich aus eigenem Augenschein von der Beschaffenheit und Qualität der Ware überzeugen. […] Da die Hausfrau mit dem Auge kauft, muß vor allen Dingen alles griffbereit liegen oder stehen.“ [13] Und doch: Von der Selbstbedienung profitierten erst einmal Blechdosen, Pappverpackungen und vor allem die neuen Kunststoffe. Wachsender Wohlstand machte kritisch und anspruchsvoll – und entsprechend besetzten Glasverpackungen erst einmal Nischen im Angebot, setzten sich nur in Teilen der Sortimente durch.

Glas im Verkaufsregal – Aufgaben und Probleme

Die Durchsetzung der Glasverpackung in den Verkaufsregalen der Selbstbedienungsläden schien Ende der 1950er Jahre dennoch logisch zu sein. Die Käufer schienen beliebig lenkbar, wenn man sie nur richtig reizte: „Der Impulskauf wird meist durch das Auge ausgelöst. Bei der gläsernen Verpackung läuft er folgerichtig so ab: Sehen – wünschen – kaufen. Dadurch, daß die Glasverpackung ihren Inhalt zeigt, enthebt sie den Denkapparat der Notwendigkeit des Ratens um Aussehen und Menge der angebotenen Ware. Auf direktem Wege wird solchermaßen die Brücke vom Auge zum Wunschzentrum des Gehirns vorgeschlagen. Von dort bedarf es nur noch eines Schaltvorganges, und aus dem Wunsch wird der Kauf.“ [14] Doch derart simple Modelle scheiterten rasch. Zum einen war das Durchschnittseinkommen in den Nachkriegsjahrzehnten noch gering, so dass jede, auch die kleinste Anschaffung wohlbedacht sein wollte. Zum anderen hatten die Verbraucher von der Verpackung der meisten Lebensmittel klare Vorstellungen, so dass Traditionen aufgebrochen werden mussten. Kaffeeextrakte wurden in Deutschland beispielsweise seit den frühen 1940er Jahren in Metalldosen verkauft. Erst 1962 wechselte der Marktführer Nescafé zur Glasverpackung. Vorangegangen war eine umfangreiche und jahrelange Marktforschung. Der Packungswandel war erfolgreich, und rasch zogen die Wettbewerber nach. [15] Nicht unterschätzen sollte man auch, dass nicht nur Glas, sondern auch Kunststoffe Pioniere der Sichtverpackung waren. Harzer Roller wurde seit Anfang der 1930er Jahre auch deshalb in Cellophan verpackt, um der weit verbreiteten und nicht ganz unbegründeten Madenfurcht zu begegnen. Sichtfenster in Papierverpackungen erlaubten ebenfalls kritische Blicke auf die Waren.

Konkurrenz der Kunststoffe: Papiersichtverpackung mit Sichtfenster (Die Neue Verpackung 8, 1955, Nr. I, 1)

Glasverpackungen setzten sich daher erstens in Marktbereichen durch, in denen sie schon früher eingesetzt wurden. Gute Beispiele hierfür sind teurere Gemüsesorten, Fischkonserven und Feinkostwaren. Appel Majonnäse [sic!] wurde seit ihrer Markteinführung 1905 im Glas angeboten, ähnlich die späteren Speiseöle dieser Hannoveraner Firma. [16] Zweitens diente Glas dazu, Waren attraktiver zu machen, ihnen höheren Wert beizumessen. Vom Extraktkaffee war schon die Rede. Doch auch Babykost wurde seit Ende der 1950er Jahre zunehmend in Gläsern angeboten, nachdem zuvor Pappe für Kindermehle und Blechdosen für Milchpräparate gängig waren. Drittens dienten Glasverpackungen der Einführung neuer Produkte. Sie profitierten dabei von der massiven Ausweitung der Sortimente, die mit dem Übergang der anfangs noch kleineren Selbstbedienungsgeschäfte zum „Supermarkt“ Ende der 1960er Jahre nochmals beschleunigt wurden.

Selbstdarstellung der Glasindustrie: Wissenschaftliche Prüfung der Verpackungswirkung bei Gerresheim Glas (Die Neue Verpackung 18, 1965, 315)

Dieser Bedeutungsgewinn war begleitet von intensiven Tests und wissenschaftlicher Grundlagenforschung, um Lebensmittel in einer Verpackung möglichst attraktiv zu präsentieren. Spargel schön nebeneinander, parallel und in gleicher Länge. Kirschen gut verteilt, mit gleichem Abstand, ohne Quetschungen am Boden. Konfitüre ohne Zuckerkranz. Sülze mit nur geringer Fettablagerung unterm Deckel. Jedes Lebensmittel erforderte präzises biochemisches Wissen – und anschließend eine passgenaue Verpackungsvariante durch die Glasindustrie.

Derartige natur- und ingenieurwissenschaftliche Kompetenz wurde seit den 1960er Jahren jedoch überlagert und teils dominiert durch Marketingwissen. Anfangs dominierten dabei psychologische Ansätze, wie etwa die Motivationsforschung. Sie ging davon aus, dass man nicht Waren kaufe, sondern von Grundtrieben gesteuert sei, dass man nicht Schokolade kaufe, sondern Trost und Sicherheit. „Die Produkte sollen rational hergestellt werden, aber zunehmend irrationale Wünsche befriedigen.“ [17] Waren waren Projektionsflächen, neben den Preis traten andere Werte. Für das etwas teurere Verpackungsmaterial Glas war dies eine Chance. Verbraucherbefragungen ergaben: „1. Glas ist hygienisch, und für den Käufer ist Hygiene gleich Sauberkeit. Die Sauberkeit des Glases läßt sich mit eigenen Augen kontrollieren. 2. In der Lichterflut der Selbstbedienungsläden verleiht die funkelnde Brillanz des Glases seinem Inhalt noch zusätzliches Ansehen. 3. Glas ist den Menschen von den ersten Lebenstagen an lieb und vertraut. Meist sind es angenehme Stunden, in denen Glas eine Rolle spielt. […] Dieses Vertrauen der Verbraucher in gläserne Behälter kommt unbewußt auch dem Inhalt zugute.“ [18] Doch moderne Waren mussten nicht nur unbewusste Wünsche erfüllen, um erfolgreich zu sein. Sie mussten auch Gebrauchswertvorteile haben, insbesondere richtig portioniert sein. Das bedeutete eine ganze Bandbreite von Verpackungsgrößen, für die noch dominante klassische Vier-Personen-Familie, für ein Ehepaar, für die wachsende Zahl von nicht verheirateten Erwachsenen. Wichtig war auch, dass Verpackungen bequem waren, also einfach zu öffnen und zu schließen, vernünftig zu stapeln und zu lagern.

Gemeinschaftswerbung für Glasverpackung als Ausdruck der neuen Zeit (Die Neue Verpackung 24, 1971, 27)

Auch der zunehmend mächtige Einzelhandel verband mit der Verpackung neue Ziele. In der Zwischenkriegszeit dominierte die Werbung mittels Anzeigen und Plakaten. Im Selbstbedienungsumfeld wurde zudem die Ware selbst zu einer zentralen Werbefläche. Nach wie vor umkränzt von anderen Werbemitteln, nicht zuletzt der immer wichtigeren Fernsehwerbung, stand sie immer auch alleine im Verkaufsumfeld, musste dann über ihre Verpackung wirken. Die Sichtbarkeit von Glas, die damit verbundenen positiven Gefühle, ihre Bequemlichkeit und Alltagstauglichkeit waren werbewirksam. Glas reduzierte Werbekosten, indem es Verbrauchervertrauen schuf. [19] Dies erlaubte der Glasverpackung eine beträchtliche Expansion, begrenzte zugleich aber ihre Stellung im Werbearsenal. Glaubwürdig standardisierte Produkte brauchten ihrer nicht, etwa Zigaretten oder aber Tafelschokolade. Glas war angebracht bei letztlich nicht vollends zu standardisierenden Lebensmitteln. In Selbstbedienung angebotenes Obst und Gemüse, Fisch und Fleisch litten unter dem „Ungläubige-Thomas-Komplex“ [20]. Bei ihnen wollte der Verbraucher doch sicher gehen, einen Blick wagen; mochte er auch der modernen Lebensmittelversorgung grundsätzlich vertrauen.

Verpackte Waren in einem SB-Geschäft in den späten 1950er Jahren (Henry Meier (Hg.), So baut man heute an der Ruhr, Rheydt 1960, s.p.)

Die Glasverpackung der 1950er und 1960er Jahre verwies ein wenig in die Vergangenheit zurück, stieß zugleich aber Debatten an, die uns bis heute beschäftigen. Gläser jeder Art hatten erst einmal einen unmittelbaren Gebrauchswert, der über den Behälter einer Ware hinausging. Noch Mitte der 1950er Jahre gab bei repräsentativen Verbraucherbefragungen mehr als die Hälfte an, dass sie Glasverpackungen auch kaufe, um sie wiederzuverwenden. [21] Dies war auch ein Grund für die zunehmende Erosion von Pfandsystemen, denn Verpackungen wurden nicht mehr länger als Eigentum der Anbieter, sondern als ein Gut in eigener Verfügung verstanden. Die Hersteller ließen sich hierauf ein, denn Verpackungsaufwand wurde für sie zunehmend Werbeaufwand. Doch zugleich stieß man damit die seit den späten 1890er Jahren immer wieder von Neuem geführte Debatte über “verlorene“ Verpackungen und ihre Folgewirkungen an. Glas war einweg- und mehrwegfähig, konnte als billiger Wegwerfartikel dienen, aber auch als gängige Pfandware. Während der „Ex und Hopp“-Euphorie der späten 1960er Jahre war das billige Leichtglas ein scheinbar idealer Begleiter für den modernen Lebensstil einer Zeit, die die Enge der Krisenzeiten überwunden hatte. Doch schon kurz darauf wurde Glas als ökologischer Verpackungsstoff gepriesen, denn er konnte über Pfandsysteme mehrfach genutzt, über Einwegsysteme aber wiederum zu Glas umgeschmolzen werden. Ähnliche Ambivalenzen gab es auch bei Standardverpackungen. Gerade Verbraucherschützer und Hausfrauenvereinigungen kritisierten, dass die vielbeschworene Transparenz auch beim Glas Grenzen habe. Das Glas täusche über eine geschönte Produktwelt hinweg, wirke es doch vielfach wie eine Lupe, die Lebensmittel größer erscheinen lasse als sie seien. [22] Mindergewicht wurde häufig bemängelt, ebenso aber die bei Kosmetika weit verbreiteten Präparate mit Formen, die das wahre Gewicht nur erahnen ließen. [23] Glasverpackungen waren Teil des Illusionstheaters moderner Konsumgesellschaften, in der Transparenz ein Versprechen ist, das im Kaufalltag nicht vollends eingehalten wird und eingehalten werden kann.

Glas als Umweltrisiko – Anzeige der Aktion saubere Landschaft (Die Neue Verpackung 24, 1971, 294)

Absolutes Wachstum, relative Stagnation

1961 wurden in der Bundesrepublik Deutschland mehr als 1,5 Mrd. Glasflaschen hergestellt, zudem 140.000 Tonnen Glas für Verpackungen der kosmetischen, pharmazeutischen und chemotechnischen Industrie. [24] Das waren immense Produktionssteigerungen, denn 1955 lagen die entsprechenden Werte erst bei 780 Mio. bzw. 89.000 t. [25] Gleichwohl relativieren sich diese Zahlen, bettet man sie in die Entwicklung der gesamten Verpackungsbranche ein. Glas konnte seinen relativen Anteil von 8,5% 1954 auf 9,3% steigern, doch dann begann ein moderater Abwärtstrend. 1969 lag der Anteil wieder bei den Werten von 1954. [26] Insgesamt dominierten Verpackungen aus Papier und Pappe, die etwa die Hälfte des Marktes ausmachten. Doch die Werte sanken, ebenso wie die von Metallverpackungen, deren Anteil bei einem knappen Viertel lag. Glas behauptete sich etwas besser, doch der eigentliche Gewinner waren Kunststoffverpackungen, die von 1,3% 1954 auf einen Marktanteil von 20,5% 1969 emporschnellten. Wertmäßig übertrafen sie Glasverpackungen bereits um 1960. [27] Diese Daten relativieren sich wiederum, betrachtet man die absoluten Daten. Der Bruttoproduktionswert für Glasverpackungen stieg von 1952 220 Mio. DM, über 1957 333 Mio., 1962 560 Mio., 1967 769 Mio. auf 1972 1.268 Mio. DM. [28]. Die Hälfte aller Verpackungen diente Lebensmitteln, bei Glas lag dieser Wert deutlich höher.

Erfrischungsgetränke als Wachstumsmarkt der Glasindustrie (Kristall 14, 1959, 559)

Diese Angaben decken sich mit den eher allgemeinen Aussagen über die durch die Selbstbedienung bewirkten Strukturveränderungen im Konsumgütermarkt. Kunststoffe gewannen in allen Bereichen an Bedeutung, waren sie doch flexibel und widerstandsfähig, gut zu formen, relativ preiswert und zudem als Sichtverpackung einsetzbar. Folienverschweißtes Fleisch war ein Signum der späten 1960er Jahre, die einstige Herrenspeise nun als Billigware allseits verfügbar. Hohlglas aber war wettbewerbsfähig, trotz beträchtlicher Verluste etwa bei Milchverpackungen (Aufkommen von Tetra Pak) oder Einbußen bei Einkochgläsern.

Blicken wir ein wenig genauer in die Regale, so profitierte Glas vor allem vom verstärkten Angebot und dem vermehrten Konsum von Obst und Gemüse sowie Feinkost. Es gewann Terrain bei Obst- und Sauerkonserven, bei Würstchen, Ketchup oder der schon erwähnten Babykost. Auch Essig, Öl, Nass-Saucen, Gemüsesalate und Gewürze boten neue Absatzchancen. Angesichts wachsender Realeinkommen war selbst der etwas höhere Preis kein Manko. [29] Glasverpackungen erlaubten nicht zuletzt einheimischen Angeboten, sich als höherwertige Angebote, „fort von der Preiskonkurrenz“ aus dem Ausland, im Markt zu behaupten.

Glasverpackungen setzten sich anfangs bei vielen Markenartikeln durch, hatten dann aber überdurchschnittlichen Erfolg bei den Handelsmarken. Ende der 1960er Jahre war dies besonders wichtig. Der Anteil von Gläsern nahm von 1967 bis 1970 bei Gemüse von knapp 7% auf knapp 19% zu, bei konserviertem Obst gar von 47% auf 71%. [30] Die Schönheit auch einfacher Gläser und die Sichtbarkeit des Inhaltes blieben Kernargumente für Glasverpackungen. „Man kann nicht angeschmiert werden“ [31] war die Hoffnung der meisten Verbraucher, Grundhaltung in einer offenen Gesellschaft, in der man vorsichtig sein musste, selbst im Elementaren.

Uwe Spiekermann, 9. Oktober 2020

Anmerkungen
[1] Georg Bergler, Glas gegen Dose, Markt und Verbrauch 11, 1939, 181-190, hier 184.
[2] Helmut Bräuer, Die Verpackung als absatzwirtschaftliches Problem. Eine absatzwirtschaftliche und werbepsychologische Untersuchung des deutschen Verpackungswesens, Nürnberg 1958, 24.
[3] Pollopas, das elastisch-biegsame Kunstglas, Illustrierte Technik für Jedermann 4, 1926, 609-610.
[4] Bräuer, 1958, 25.
[5] Manfred Gebhard, Die Entwicklung der Verpackung für Konsumfertigwaren seit 1945, Wiwi. Diss. Nürnberg 1957, 29.
[6] Zur Geschichte der Verpackung, zumal der Konservendose und des Cellophans s. Uwe Spiekermann, Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen 2018, 452-474.
[7] Eduard Nehring, Die Verwendung metallischer und nichtmetallischer Werkstoffe als Verpackungsmaterial in der Konservenindustrie, in: Wissenschaft und Technik in der Konservenindustrie, Braunschweig 1939, 41-54, hier 44-45.
[8] Uwe Spiekermann, Rationalisierung, Leistungssteigerung und „Gesundung“: Der Handel in Deutschland zwischen den Weltkriegen, in: Michael Haverkamp und Hans-Jürgen Teuteberg (Hg.), Unterm Strich, Bramsche 2000, 191-210, hier 196-197.
[9] Victoria de Grazia, Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe, Cambridge und London 2005, 380-396. Ähnlich Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel. Die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949-1973), Köln, Weimar und Wien 2013.
[10] Hans-Viktor Schulz-Klingauf, Selbstbedienung. Der neue Weg zum Kunden, Düsseldorf 1960, 328.
[11] Verbraucherverhalten und Verbrauchsgewohnheiten […], Verbraucher-Politische-Korrespondenz 6, 1959, Nr. 9, 7-10, hier 8.
[12] Uwe Spiekermann, Rationalisierung als Daueraufgabe. Der deutsche Lebensmitteleinzelhandel 20. Jahrhundert, Scripta Mercaturae 31, 1997, 69-129, hier 102; Uwe Spiekermann, Die Einführung der Selbstbedienung im Einzelhandel der DDR, 2019 [Link setzen: https://uwe-spiekermann.com/2019/09/28/die-einfuehrung-der-selbstbedienung-im-einzelhandel-der-ddr-1951-1960/ ].
[13] Waldemar Tiebel, Im Selbstbedienungsladen ist jede Verpackung ein stummer Verkäufer, Die Neue Verpackung 9, 1956, 650, 652, hier 650.
[14] Glasbehälter senden Impulse, Die industrielle Obst- und Gemüseverwertung 44, 1959, 378.
[15] NESCAFÉ jetzt im Glas, Die Neue Verpackung 15, 1962, 822; Absatzförderung und Glaspackung, Die Neue Verpackung 15, 1962, 874, 876.
[16] Kristina Huttenlocher, Appel Feinkost. Ein Familienunternehmen im Wandel der Zeit, Springe 2013, 54-81.
[17] Herbert Gross, Die Zukunft der Glasverpackung, Düsseldorf und Wien 1964, 16.
[18] Willy Tyroler, Glas – im Kommen oder Gehen?, Die industrielle Obst- und Gemüseverwertung 45, 1960, 102-103.
[19] Gross, 1964, 39.
[20] Tyroler, 1960, 103.
[21] Konsumenten beurteilen Glaspackungen. Großangelegte und daher aufschlußreiche Meinungsforschung, Die Neue Verpackung 9, 1956, 194-197, hier 196.
[22] Erika Luther, Verpackung von Nahrungs- und Genußmitteln aus der Sicht des Verbrauchers, Die Neue Verpackung 18, 1965, 1151-1154.
[23] Schwund in vielen Tüten, Der Spiegel 17, 1963, Nr. 18, 62-65, insb. 64.
[24] Willy Tyroler, Gläserne Warenpackung in Kosmetik und Pharmazie, Die Neue Verpackung 15, 1962, 862-863, hier 862.
[25] Produktionsstatistik für Verpackungsmittel, Die Neue Verpackung 13, 1960, 120.
[26] Die Neue Verpackung 24, 1971, 28.
[27] K. Stoeckhert, Der internationale Kunststoffmarkt und die Verpackungstechnik, Neue Verpackung 24, 1971, 25-26, 28, 31, hier 28.
[28] Matthias Nast, Die stummen Verkäufer. Lebensmittelverpackungen im Zeitalter der Konsumgesellschaft […], Bern u.a. 1997, 342-343.
[29] Die Glasverpackung erweitert ihre Anwendungsgebiete, Die Neue Verpackung 18, 1965, 745-746, 748, hier 745.
[30] Otto H.C. Scharfenstein, Verpackungen für Handels- und Eigenmarken, Neue Verpackung 24, 1971, 942-944.
[31] NESCAFÉ, 1962, 822.

Wagemut und Kapitalmangel – Die Anfänge der Boffzener Glasindustrie 1866-1874

„Der Fabrikunternehmer Friedrich Bartling aus Werste beabsichtigt in Gemeinschaft mit Hermann Witte aus Magdeburg und dem Halbmeier Heinrich Schmidt aus Boffzen auf der Steinbreite in der Feldmark Boffzen neben der Fürstenberger Straße und dem Communicationswege nach Boffzen eine Glashütte nebst Wohnungen für Fabrikarbeiter zu errichten.“ (1) Mit dieser lapidaren Bekanntmachung in der Braunschweigischen Landeszeitung und Holzmindener Anzeiger vom 26. Juli 1866 begann die moderne Glasgeschichte Boffzens. Sie stellte einen klaren Bruch mit der weit in die frühe Neuzeit zurückreichenden Tradition der Waldglashütten dar, kleine Handwerksgewerke nah am Brennstoff Holz.

Ankündigung eines neuen Kapitels der Boffzener Geschichte (Braunschweigische Landeszeitung und Holzmindener Anzeiger 1866, Nr. 60 v. 28. Juli 1866, 6)

Ein Gründungstrio

Am Anfang der Boffzener Glasindustrie standen also die Herren Bartling, Witte und Schmidt – nicht die erst später prägenden Familien Becker, von Campe und Noelle. Sie bündelten ihre Kräfte, „um auf gemeinschaftliche Rechnung eine Fabrikanlage mit den dazu nöthigen Wohnhäusern einzurichten und dernach die Fabrikation von weißem Hohlglas zu betreiben.“ (2) Die drei waren Gewerbetreibende, Wirtschaftsbürger, „Kapitalisten“, die eine Chance auf Einkommen, Gewinn und Wohlstand sahen. Das war recht typisch für die 1860er Jahre, selbst im relativ rückständigen Herzogtum Braunschweig. Der Staat zog sich nach der Revolution von 1848/49 zunehmend aus dem Wirtschaftsgeschehen zurück, Bürger nutzten dies auch als Ausgleich für die begrenzten politischen Mitspracherechte. Die industrielle Aufwärtsentwicklung hatte sich verstetigt. Die deutschen Staaten waren im Deutschen Bund zusammengeschlossen, der 1864 Dänemark geschlagen hatte. Doch Preußen, industriell fortgeschritten und Vormacht im 1834 gegründeten Deutschen Zollverein, gewann an Macht. Das Herzogtum Braunschweig, dessen auch Boffzen umgreifendes Staatsgebiet vor allem durch viele Grenzen geprägt war, war dem Zollverein schon 1842 beigetreten, der große Rivale, das Königreich Hannover, war 1854 gefolgt. Das erlaubte nicht nur wirtschaftliches Wachstum, sondern auch die Ankopplung an regionale und überregionale Märkte. Eisenbahnen halfen das Land zu erschließen, erlaubten Güter- und Warentransport, ermöglichten die billigere Produktion auch von Glas. Das Umfeld für eine Firmengründung schien also günstig, mochte der einen Monat vor der Zeitungsnotiz ausgebrochene „Deutsche Krieg“ zwischen den von Preußen bzw. Österreich geführten Koalitionen auch zu Verwerfungen führen. Im Juli 1866 hatte die Schlacht von Königgrätz den Krieg bereits zugunsten Preußens entschieden, zugunsten auch von Braunschweig, einem Mitglied der siegreichen Koalition. Die Gründung der Boffzener Glashütte setzte auf Frieden, auf weiteren wirtschaftlichen Aufschwung im anvisierten Norddeutschen Bund, vielleicht gar im vom Bürgertum größtenteils gewünschten Deutschen Reich.

Wir wissen nicht viel über die drei Unternehmer. Wichtig aber war, dass sie ihre unterschiedlichen Fähigkeiten verbanden, um gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Friedrich Bartling war Bauunternehmer, Heinrich Schmidt Zimmermeister, Hermann Witte Porzellanproduzent – sie konnten bauen, konnten Betriebe führen, hatten das nötige Grundkapital. Doch über die Personen ist nicht viel überliefert worden. Friedrich Bartling, der Bauunternehmer, lebte und arbeitete in Fürstenberg, in Sichtweite der geplanten Glasfabrik. Er stammte aus dem ostwestfälischen Werste, einem heutigen Stadtteil von Bad Oeynhausen im Kreis Minden-Lübbecke, wo er am 30. März 1827 geboren wurde. (3) Heinrich Schmidt war zwei Jahre jünger. Er stammte aus Boffzen, war Halbmeier, also ein tributpflichtiger Kleinbauer. Doch er sattelte um, setzte zudem auf die Holzwirtschaft der Region, wurde Zimmermeister und Sägewerkbetreiber. Wie viele Gewerbetreibende war er in Rechtshändel verstrickt: Er führte Prozesse gegen die Witwe des Vollmeiers Heinrich Hansmann aus Boffzen wegen eines Fußweges und gegen die Schule des Ortes wegen der Nutzung eines Heuweges. (4) Was uns antiquiert anmutet, war damals elementar, ging es doch um Freizügigkeit und Besitzrechte, also um die Grundlagen bürgerlicher Freiheit.

Über den Dritten im Bunde wissen wir mehr: Hermann Witte stammte aus dem preußischen Magdeburg, einer Handels- und Industriestadt, bekannt für Zucker und Zichorie, Metallwaren und Maschinen jeder Art. Geboren am 23. Dezember 1840 war er Sohn von Heinrich Witte sen., der im September 1862 zusammen mit Wilhelm Freytag die Porzellanmanufaktur Fürstenberg vom Herzogtum Braunschweig gepachtet hatte. (5) Witte sen. war ein Mann vom Fach, zuvor Dreher in der Königlichen Porzellan-Manufaktur in Berlin und technischer Leiter der Porzellanfabrik Buckau bei Magdeburg. In Fürstenberg liefen die Geschäfte in den 1860er Jahren sehr erfolgreich – und damit besaß die Familie genügend Kapital, um in eine Glashütte zu investieren. (6) Das war wohl Teil der typischen Strategie von Familienunternehmern dieser Zeit: Es galt, Hermann Witte und seinem Bruder eigene unternehmerische Existenzen aufzubauen. Der jüngere Friedrich Hermann Witte (geboren am 6. August 1847 in Buckau) wurde wenige Jahre später, 1872, Mitglied der Geschäftsleitung in Fürstenberg, nachdem Mitinhaber Wilhelm Freytag ausgestiegen war. (7)

Wagemut – Eine Investition in die neue Zeit

Das Gründungstrio besaß genügend Kapital, um 1866 den Firmengrund zu kaufen. Am 18. Juni 1866 erwarben sie vom Boffzener Landwirt Heinrich Hansmann ein Grundstück von 7.500 Quadratmetern. (8) Aus damaliger Sicht lag es verkehrsgünstig, an der Chaussee von Fürstenberg nach Holzminden – und zudem in unmittelbarer Nachbarschaft zur Sägemühle des Mitinhabers Heinrich Schmidt.

Lageplan der Boffzener Glashütte 1866 – mit den späteren Erweiterungen der Firma Noelle & von Campe im 19. Jahrhundert (Archiv Freundeskreis Glas)

Die Motive der drei Gründer, just in eine Glashütte zu investieren, sind nicht im Detail überliefert. Glas und Porzellan werden aus ähnlichen Rohstoffen hergestellt – dies war gewiss ein Argument für die Familie Witte, investierte man doch in ein ähnliches Gewerbe. Beide Branchen erfuhren damals grundsätzliche Veränderungen, denn sie wurden teils privatisiert: Sowohl in der Porzellan- als auch in der Glasherstellung gingen herzoglich-braunschweigische Manufakturen an private Unternehmer über. Die ehedem rein handwerkliche Produktion wurde neu organisiert, zum Markt hin geöffnet und mit ersten Maschinen experimentiert. Die Grünenplaner Spiegelglashütte war bereits 1830 in den Privatbesitz von Friedrich Carl Ludwig Koch überführt worden. Die wirtschaftspolitische Umkehr reagierte auf den wachsenden Wettbewerbsdruck durch auswärtige Konkurrenz und die beträchtliche Verteuerung des Brennholzes im Solling. Grünenplan wies einen Ausweg aus der Krise der Sollinger Glasindustrie, spezialisierte sich die Firma doch auf sehr reines Glas für optische Zwecke, weitete zugleich ihren Absatz über die Region aus. (9)

Die Verkehrsanbindung war also zentral – und das betraf nicht allein die Lage an der Handelsroute gen Holzminden. 1864 war auf westfälischer Seite die Eisenbahnlinie von Altenbeken nach Höxter in Betrieb genommen worden, 1865 folgte unter braunschweigischer Federführung die Linie von Holzminden nach Kreiensen (und weiter nach Braunschweig). Damit konnte die Rohstoff-, insbesondere aber die Energiezufuhr entscheidend verbilligt werden. Die Neugründung bei Boffzen sollte nicht mehr, wie die alten Sollinger Hohl- und Tafelglashütten, mit Buchenholz, sondern mit Kohle beheizt werden – und die kam per Eisenbahn aus den neu errichteten Zechen des Ruhrgebiets.

Der Wandel der Glasindustrie zur damaligen Zeit spiegelte sich im Gründertrio. Prägten zuvor Glasmacherfamilien das Gewerbe – Väter führten vielfach ihre Söhne in die Glasmacherkunst ein – so investierten nun fachfremde Investoren und machten damit den im Niedergang begriffenen  Sollinger Glashütten neue Konkurrenz. Umso wichtiger war neben dem Faktor Boden der Faktor Arbeit. Für ein gutes Geschäft war es entscheidend, einen erfahrenen Hüttenmeister und eine Kernmannschaft fähiger Glasmacher anzuwerben, denn nur so konnte die technische Seite des Geschäfts reibungslos laufen. Von Beginn an ging es daher nicht nur um eine Glashütte, sondern auch um die „nötigen Wohnhäuser“ (10). Als Hüttenmeister warben die Gründer Friedrich Hackel von der nahe Boffzen gelegenen Glashütte Rottmünde ab. (11) Dieser erkannte, dass er in einer guten Verhandlungsposition war. Er erhielt neben seinem Jahressalär von 400 Talern auch freie Wohnung und Feuerung sowie fünf Prozent des Gewinns. (12)

Industrieansiedlung auf der grünen Fläche: Bauplan der Glasfabrik 1870 (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 130 Neu 3 Nr. 17)

Die Glashütte entsprach den Blaupausen damaliger Ratgeberliteratur. Der wirtschaftliche Erfolg hing dabei von der angemessenen Wahl des Glasofens ab, der wie die frühen Dampfmaschinen den Mittelpunkt des Betriebes bildete. Dies zeigte sich schon bei der ersten Gesellschafterversammlung am 29. Oktober 1866, die das Ergebnis betrieblicher Suchbewegungen zusammenfasste: „Betreff des Ofenbauer ist bestimmtes noch nicht festgestellt, wenn auch allen der Vorteil, welcher der Siemsche [sic!] Ofen hat einleuchtet, so kann doch eine Entscheidung nicht herbei geführt werden, da bei einer so hochwichtigen Einrichtung erst sich Jemand über die wirkliche Zweckmäßigkeit informieren müßte, was zunächst dadurch geschehen soll, daß einer der Herren in möglicher Begleitung des Herrn Hackel eine oder mehrere Fabriken besichtigt.“ (13) Diese kleine Passage spiegelt die Umbrüche der Branche, ihren Weg in die neue Maschinenwelt. Denn auf die Gründungsbekanntmachung folgte ein Schriftwechsel erst mit den Repräsentanten, dann mit dem Patentinhaber Friedrich Siemens selbst. Er hatte Ende der 1850er Jahre einen neuartigen Regenerativofen entwickelt, der nach einigen Modifikationen ab 1864 erst in der Stahl-, dann auch in der Glasindustrie Verbreitung fand. Er verbesserte die Mitte des Jahrhunderts aufkommenden Öfen mit indirekter Feuerung: Das Brennmaterial wurde in Generatoren verbrannt, das entstehende Gas dann in den eigentlichen Ofen gelenkt, wo es unter Luftzufuhr verbrannte. Es wurde dann durch Kammern aus feuerfestem Stein, den Regeneratoren, geleitet, um schließlich den Schmelzprozess des Glasgemenges in Gang zu setzen und zu halten. Siemens pries Hermann Witte die Vorteile an, nämlich Ersparnis an Brennstoff, an Flussmitteln, die Darstellung eines ganz reinen Glases und die schnellere Schmelzung. (14) Der Nachteil des 1866 nochmals speziell für die Glasproduktion modifizierten Regenerativofens lag jedoch in den wenigen bisher vorliegenden Erfahrungen und seinem relativ hohen Preis. Aus diesem Grunde orderte die Glashütte einen einfacheren und billigeren Ofen, den der frühere Siemens-Ingenieur Boetius seit 1864 auf eigene Rechnung vertrieb. (15) Gegenüber den seit Anfang des 19. Jahrhunderts genutzten Öfen mit ersten Rosten steigerte er die Temperatur durch die Einspeisung von Luft zur Flamme und erreichte damit eine Ersparnis von beträchtlichen 30% Brennmaterial. (16) Das war gewiss keine schlechte Wahl, verwies aber auch auf die begrenzte Kapitaldecke der Investoren. Wenige Jahre später optierte die Nachfolgefirma Noelle & von Campe dann für einen Siemensschen Regenerativofen, der sich in den 1870er Jahren als Standard etablierte: Von den 1877 im Deutschen Reich eingerichteten Glasöfen liefen 336 mit Gasfeuerung, davon 208 nach dem System Siemens, 67 nach dem von Boetius. (17)

Raumplan der 1867 in Betrieb genommenen „Glasfabrik Steinbreite Schmidt & Witte“ (Archiv Freundeskreis Glas)

Der Boetius-Ofen bildete mit seinen sechs Häfen den Mittelpunkt des Fabrikgebäudes, das man sich nicht zu allzu groß vorstellen sollte. Der eigentliche Schmelz- und Arbeitsraum war nur wenig größer als die auf dem Fabrikgelände gelegene Wohnung des Hüttenmeisters Hackel. Die Bauarbeiten wurden im Sommer 1866 aufgenommen, doch gab es wegen der langwierigen Ofenauswahl und des schlechten Wetters Verzögerungen. Die Glashütte nahm als „Glasfabrik Steinbreite Schmidt & Witte“ schließlich im Sommer 1867 ihre Produktion von weißem Hohlglas auf, produzierte vor allem Lampenzylinder, Trinkgläser und Branntweinflaschen. (18)

Geschäftsbetrieb

Der Geschäftsbetrieb litt anfangs noch unter technischen Problemen, auch Musterbücher waren Mitte 1867 noch nicht erstellt. (19) Dennoch konnte man damals schon Bierseidel, Weingläser, Trink- und Likörgläser sowie Branntweinflaschen liefern. Parallel galt es, Lieferanten für hochwertige und zugleich preiswerte Rohstoffe zu finden, gab es damals doch noch keine Normierung derartiger Güter. Ähnliches galt für Glasfarben. Ab dem Spätsommer 1867 wurden Preisverzeichnisse versandt, der Absatz erfolgte zumeist über Großhändler. (20) Zudem richtete man erste Agenturen ein. (21) Die Nachfrage entwickelte sich offenbar günstig, allerdings kam man mit dem Formenbau nicht nach, hatte trotz dienstfertigen Bemühens Schwierigkeiten, passgenaue Kundenwünsche zu befriedigen. (22)

Die „Glasfabrik Steinbreite Schmidt & Witte“ setzte ihre Produkte vor allem regional ab, also in Braunschweig, Hannover, Westfalen und dem Rheinland. Die Rohwaren kamen vornehmlich aus dem Westen, aus Westfalen und dem Rheinland. Die nicht allzu zahlreichen Geschäftsschreiben verdeutlichten nicht nur die beträchtlichen Schwierigkeiten bei der Zahlung von Rechnungen, den einschlägigen Rabatten und Skonti und die Probleme eines auf Wechselzahlungen gründenden Geschäftes. Die damit einhergehenden Finanzierungsschwierigkeiten waren offenkundig. Explizit hieß es, da „wir nun in den nächsten Tagen Verbindlichkeiten nachzukommen haben, so würden Sie uns sehr verbunden, wenn Sie uns unser Guthaben einsenden wollen.“ (23) Dies waren übliche Probleme im damaligen Geschäftsbetrieb, doch sie verwiesen zurück auf die geringe Kapitalausstattung der neuen Firma. Das Gesellschaftskapital lag nominell zwar bei 45.000 Talern, doch war dieses zum größeren Teil nicht eingezahlt worden, sollte vielmehr durch die einbehaltenen Gewinne der Glashütte erreicht werden. (24)

Das Auseinanderbrechen eines Gründungstrios

Vor diesem Hintergrund waren Konflikte zwischen den drei Gründern nicht überraschend. Schon 1867 schied Bauunternehmer Friedrich Bartling nach deutlichen Meinungsverschiedenheiten über die Bausumme aus der Gesellschaft aus. (25) In einem Schreiben schlug er Heinrich Schmidt eine Zahlung von 5600 Talern vor und verwies auf seine angespannte finanzielle Situation, „indem ich doch nun schon seit 1 ½ Jahren nur von meinem baaren Gelde gezehrt habe, und nichts verdient“ (26) habe. Die Fertigstellung der Hüttenanlage war für ihn vorrangig, nicht jedoch das langfristige Engagement in einer ihm branchenfernen Firma. Später folgten weitere Unstimmigkeiten mit dem Hüttenleiter Hackel, die kurz vor einer rechtlichen Auseinandersetzung standen, doch noch gütlich bereinigt werden konnten. (27) Bartlings Ausscheiden führte schon vor Produktionsbeginn zu einer Namensänderung von „Bartling & Co.“ – man folgte dem Senioritätsprinzip, war Bartling doch der älteste Gesellschafter – zu „Glasfabrik Steinbreite Schmidt & Witte“.

Auf der Suche nach qualifiziertem Personal (Kunst und Gewerbe 4, 1870, 144)

Doch auch die Familie Witte schied 1870 aus, verkaufte ihre Anteile an August von Campe. Es war eine Art Vorgriff auf mehrere Unglücksfälle dieser Familie: 1872 starb Friedrich Hermann Witte im Alter von nur 25 Jahren. Die im Kirchenbuch verzeichnete Todesursache war „akuter Rheumatismus“, so dass er nur kurz in der Geschäftsleitung der Porzellanmanufaktur Fürstenberg hatte wirken können. Sein Bruder Heinrich verlor im selben Jahr seinen zweieinhalbjährigen Sohn durch die Ruhr, eine der vielen damals noch wütenden Infektionskrankheiten. Zwei Jahre später starb er selbst mit 34 Jahren an einem Gehirnschlag. (28) Heinrich Witte sen. schied schließlich 1878 aus der Porzellanmanufaktur aus. (29)

Nach dem Ausscheiden von Heinrich Witte firmierte die Firma als „Schmidt & Co. Glasfabrik Steinbreite“. Doch 1874 verließ mit Heinrich Schmidt auch der letzte verbliebene Investor des Gründungstrios die Firma. Seine Anteile von zwei Dritteln des Kapitals verkaufte er an die Brüder Heinrich und August Noelle aus Lüdenscheid. Die neuen Eigentümer benannten die Glashütte um – seitdem firmierte sie bis 1974 unter dem Namen Noelle & von Campe, bis die damalige Geschäftsleitung das alte deutsche Und-Zeichen durch ein bilanznahes Plus-Zeichen ersetzte.

Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, 1. November 2020

Anmerkungen
(1) Braunschweigische Landeszeitung und Holzmindener Anzeiger 1866, Nr. 60 v. 28. Juli 1866, 6 (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel (NLA WO), 130 Neu 3 Nr. 17).
(2) Gesellschaftervertrag 1866, §1, Archiv Freundeskreis Glas.
(3) Noelle + von Campe. Chronik 1866-1981, Boffzen 1981 (Ms.), 1.
(4) NLA WO 40 Neu 10 Fb. 4 Nr. 395 und NLA WO 40 Neu 10 Fb. 4 Nr. 396.
(5) Aus dem Kirchenbuch Fürstenberg, Unterlagen Gord von Campe, Archiv Elisabeth Pophal.
(6) Christian Lechelt, Die Porzellanmanufaktur Fürstenberg. Von der Privatisierung im Jahr 1859 bis zur Gegenwart, Braunschweig 2016, 19-20.
(7) Ebd., 20.
(8) Chronik, 1981, 1.
(9) Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830-1955), Stuttgart 1997, insb. 28.
(10) Chronik, 1981, Anlage 3.
(11) Ebd.
(12) Ebd., Anlage 5.
(13) Protokoll des Gesellschaftertreffens v. 29. Oktober 1866, Archiv Freundeskreis Glas.
(14) Schreiben von Friedrich Siemens an Hermann Witte v. 30. September 1866, Archiv Freundeskreis Glas.
(15) Richard Ehrenberg, Die Geschichte der Brüder Siemens und ihrer Unternehmen bis 1870, ND Bremen 2011, 332.
(16) Robert Großmann, Die technische Entwicklung der Glasindustrie in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, Leipzig 1908, 18. Detailliert zur Ofentechnik: E[mil] Tscheuschner, Handbuch der Glasfabrikation nach allen ihren Haupt- und Nebenzweigen, 5. neu bearb. Aufl., Weimar 1885, 218-292; Robert Dralle, Anlage und Betrieb der Glasfabriken mit besonderer Berücksichtigung der Hohlglasfabrikation, Leipzig 1886, 2-261.
(17) H[einrich] Stegmann, Gasfeuerung und Gasöfen, Heidelberg 1881, 224.
(18) Chronik, 1981, 2.
(19) Schreiben von Schmidt & Witte an Rudolf Bartling, Hildesheim v. 9. Juni 1867, Archiv Freundeskreis Glas (auch für das folgende Zitat).
(20) Schreiben von Schmidt & Witte an Rudolf Merokolt, Halle/S. v. 9. September 1867, Archiv Freundeskreis Glas.
(21) Schreiben von Schmidt & Witte an Gustav Böckelmann, Wolfenbüttel v. 18. September 1867, Archiv Freundeskreis Glas.
(22) Schreiben von Schmidt & Witte an die Eisengießerei Schünemann, Dassel v. 11. Oktober und v. 21. Oktober 1867, Archiv Freundeskreis Glas.
(23) Schreiben von Schmidt & Witte an B. Michel & Co., Ehrenfeld v. 5. Dezember 1867, Archiv Freundeskreis Glas.
(24) Gesellschaftervertrag 1866, §3, Archiv Freundeskreis Glas.
(25) Schreiben von Friedrich Bartling an Heinrich Schmidt, undatiert [April 1867], Archiv Freundeskreis Glas.
(26) Schreiben von Friedrich Bartling an Heinrich Schmidt v. 11. Mai 1867, Archiv Freundeskreis Glas.
(27) Schreiben von Friedrich Bartling an Heinrich Schmidt und Hermann Witte v. 26. Februar 1869, Archiv Freundeskreis Glas.
(28) Kirchenbuch Fürstenberg.
(29) Lechelt, 2016, 21.

Ein Versuch zur Heilung der Verwerfungen des Industriezeitalters – Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite als Reformprojekt vor dem Ersten Weltkrieg

Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite kommt unscheinbar daher. Fünfzehn Familien von Glasarbeitern der benachbarten Glashütte Noelle & von Campe fanden hier eine Heimstatt, lebten in einfachen Wohnhäusern aus Sollinger Sandstein. Und doch, die kleine Siedlung steht für etwas Großes: Sie war eine Antwort auf zentrale Probleme der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, ehe sich Europa im Ersten Weltkrieg zerfleischte. Diese Zeit war geprägt von vielfältigen Aufbrüchen in Kultur und Gesellschaft, geprägt aber auch vom Glauben an die Gestaltungskraft des Menschen: Im Mittelpunkt stand die soziale Frage, der Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital. Doch kaum weniger drängend waren die Verwerfungen zwischen Stadt und Land. Noch lebte die Mehrzahl der Bevölkerung auf dem Lande, doch die Wertschöpfung der Industrie hatte die der Landwirtschaft kurz vor 1900 überflügelt. Das rasche Städtewachstum hatte neue Machtstrukturen geschaffen, mit Metropolen als Gewerbe- und Kulturzentren, als Sitz von Parlamenten und Residenzen. Dies wurde nicht nur als Fortschritt, sondern als Bedrohung wahrgenommen, als Abkehr von ländlicher Schlichtheit und einer geordneten ständischen Welt, in der jeder seinen Platz hatte. Es galt daher, das Land zu stärken; und so stritt man um Maßnahmen gegen die Landflucht, um ländliche Wohlfahrtspflege, um die Grundlagen eines auskömmlichen und gedeihlichen Lebens auf dem vermeintlich gesünderen Lande. Eng damit verbunden war ein drittes drängendes Thema, die Wohnungsfrage. Mochten die öffentlichen Debatten auch vorrangig um die Großstädte mit ihrer Wohnungsnot und ihren konturlosen Mietskasernen kreisen, so lebte doch die Mehrzahl der damaligen Deutschen in Dörfern und Kleinstädten – und dort waren die Wohnverhältnisse häufig noch arger als im vermeintlichen Moloch der sich ausbreitenden Städte. Die Boffzener Arbeitersiedlung Steinbreite ist ohne diese großen Debatten nicht verständlich. Blicken wir also etwas genauer hin.

Soziale Frage, Stadt-Land-Verhältnis und die Wohnungsfrage

Boffzen war ein Industriedorf, in dem die sozialen Fragen der Zeit im Verhältnis von Glasarbeitern und Unternehmern, von Unternehmervillen und Arbeiterwohnungen nach der Jahrhundertwende deutlich zutage traten. Die beiden lokalen Glashütten – seit 1872 die Georgshütte G. Becker, seit 1874 die schon 1866 als Bartling & Co. gegründete Hohlglashütte Noelle & von Campe – hatten seit ihrer Gründung Wohnungen für ihre Arbeiter gebaut, mussten diese doch mit einem ordentlichen Angebot in das damalige Brückfeld bei Boffzen gelockt werden.

Lageplan der Arbeiterwohnhäuser bei Schmidt & Co. (später Noelle & von Campe) 1874 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Für die Glasarbeiter waren diese Wohnhäuser unabdingbar, nicht nur, weil im Boffzener Unterdorf kaum Wohnraum zur Verfügung stand. Gerade die bestbezahlten „Fertigmacher“ verstanden sich weniger als Arbeiter, gar Proletarier, sondern als Handwerker. Ihre Glaskunst wurde durch die leistungsfähigen Gasöfen zwar wesentlich beschleunigt, doch am Ende entschieden ihre Fertigkeiten über die Qualität des Glases und damit den Erfolg der Unternehmer. Entsprechend war ihr Lohn für den Solling gut auskömmlich, zumal im Vergleich zu Land- und Forstarbeitern. Die Glasarbeiter waren zugleich – anders als städtische Fabrikarbeiter – in das landwirtschaftliche Umfeld eingebunden, denn etwas Ackerland und Kleintierhaltung waren für sie üblich. Das erlaubte eine etwas bessere Ernährung, schuf zugleich Puffer für beschäftigungsarme, gar beschäftigungslose Zeiten.

Die Hüttenbesitzer unterstützten diese Grundhaltung, denn sie deckelte die Löhne und schuf zugleich eine Kernbelegschaft, die im Falle von Fehlverhalten nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihre Wohnung verlor. Auch für die Unternehmer war die soziale Frage kein strikter Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, war mehr als die leidige Lohnfrage. Sie verstanden sich als patriarchale Herren, die ihren Beschäftigten mehr schuldeten als Geld, die auch Verantwortung für deren Leben und deren Familie übernahmen. Entsprechend ging es ihnen – Wohlverhalten und moderate Ansprüche der Arbeiter vorausgesetzt – immer auch um die „allmähliche Hebung des Kulturstandes“ (1) der ihnen Anvertrauten. Betriebliche Sozialpolitik war für sie immer auch Bildungs- und Erziehungsprogramm: Der Wohnungsbau förderte die Familie und damit geordnete private Verhältnisse. Der 1891 von Noelle & von Campe initiierte Konsumverein führte zu geordnetem Wirtschaften und Barzahlung, hielt zugleich den Alkoholkonsum in akzeptablen Grenzen. Das 1904 von der im Jahr zuvor gegründeten Carl-Becker-Stiftung errichtete Invalidenhaus gab die Aussicht auf ein Lebensende in Würde.

Die Anfang des 20. Jahrhunderts gebauten Unternehmervillen – Noelle (1897), Becker (1905), von Campe (1905) – setzten allerdings einen neuen Akzent, wurde damit doch auch der Gegensatz zwischen beiden Gruppen deutlich hervorgehoben. Die Arbeitersiedlung Steinbreite war deren Gegenstück. An die Stelle der zuvor gebauten seriellen Mietwohnungen wurden nun nämlich Einzelhäuser gestellt.

Serielle Arbeitermietshäuser auf dem Gelände der Georgshütte um 1900 (Schreiben von G. Becker an die Kreisdirektion Holzminden v. 13. September 1901, Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Der Bau von Unternehmervillen einerseits, einer Arbeitersiedlung wie in der Steinbreite anderseits, spiegelte ein vorrangig städtisches Phänomen, nämlich die sozialräumliche Segregation einzelner Schichten – denken Sie etwa an den Gegensatz zwischen den Bürgervillen an der Hamburger Binnenalster und den Arbeiterbehausungen im Gängeviertel. Doch die Boffzener Bauanstrengung war auch Teil einer Stärkung des Landes, wie sie insbesondere vom 1896 gegründeten Deutschen Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege und dem Publizisten Heinrich Sohnrey propagiert wurde. (2) Sie war ebenfalls eine Antwort auf die in den Metropolen eifrig geführte Agrar-Industriestaat-Debatte, bei der es um nicht weniger als die Konturen des Deutschen Reiches ging. Sollten die Industrie und die sie vorantreibenden bürgerlichen Schichten das Land dominieren, oder sollten Adel und Großbauern einen bestimmenden Einfluss behaupten?

Heinrich Sohnrey plädierte für letzteres, doch der völkisch-nationalistische Propagandist wusste, dass sich auch und gerade das Land ändern musste, wollte es seine ehedem prägende Rolle nicht gänzlich verlieren. Gemeinsam mit vielen vor allem aus dem protestantischen Bürgertum stammenden Mitstreitern entwickelte er ein umfassendes Reformprogramm, bei dem es um eine Verbesserung der ländlichen Verhältnisse auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet ging. (3) Wirtschaftlich zielten die Reformer auf selbständige bäuerliche und handwerkliche Existenzen, unterstützten daher Kredit- und Produktionsgenossenschaften, regten eine durchaus marktbezogene Veredelungswirtschaft an, ebenso die Anbindung an Wasser- und Elektrizitätsversorgung. Sozial stand man für eine regulierte Zufuhr ausländischer Landarbeiter, für Maßnahmen zur sozialen Besserstellung deutscher Landarbeitern, umfassende Bildungs- und Erziehungsprogramme sowie eine systematische Förderung der Dörfer, um Grundlagen der Daseinsfürsorge gewährleisten zu können. Kulturell koppelte man Volkskunde und Brauchtumsförderung mit einem umfassenden Naturschutz. Es handelte sich also um eine aus heutiger Sicht widersprüchlich anmutende Verbindung von sozialpolitischem Fortschritt und einem ideologisch aufgeladenen Beharren auf einem ideal gedachten, so jedoch nie existierenden ländlichen Dasein. Arbeiter in Industriedörfern wie Boffzen waren für diese Reformer Teil eines größeren Problems, zugleich aber Teil der Lösung.

Hier gedeihlich ansässige Arbeiter boten nämlich eine Alternative zu den – so die Wahrnehmung – fordernden sozialdemokratischen Proletariermassen, belegten zugleich auch, dass Klassenkampf nicht nötig sei. Diese durchaus wirkungsvolle Reformbewegung stand am Anfang einer deutlich breiter aufgestellten und weniger sozialpolitisch agierenden Heimatschutzbewegung und allgemeiner Bestrebungen zur „inneren Kolonisation“. Sie teilten wichtige Elemente mit der Lebensreformbewegung dieser Zeit, insbesondere eine Sehnsucht nach dem Lande und dem Ländlichen, wie sie sich etwa in der Künstlerkolonie Worpswede, vegetarischen Siedlungen wie etwa „Eden“ bei Oranienburg oder aber der Wandervogelbewegung niederschlug: „Die Großstädte bieten immer weniger die Möglichkeit, angenehm in ihnen zu wohnen. Die Ansiedelung auf dem Lande, mit ländlichem Naturgenuß und Naturnutzbarkeit ist das Ziel der Gegenwart, und das Wohnen auf dem Lande in enger Verbindung mit der Natur wird in der Zukunft stets als notwendige Stärkung zur Arbeit in der Stadt erstrebt werden.“ (4)

Arbeiterkolonie Marga im Braunkohlerevier der Niederlausitz: Heimstatt für 3.800 Menschen (Die Woche 16, 1913, 1361)

All dies hatte deutliche Rückwirkungen auf die Wohnungsfrage und insbesondere den Arbeiterwohnungsbau. Die Wohnverhältnisse waren bereits im frühen 19. Jahrhundert in Stadt und Land prekär geworden, doch die moderne Wohnungsfrage stellte sich zuerst in den Industriezentren, dann in den Metropolen. Der rasche Zuzug von Hundertausenden überforderte die Kapazitäten des Baugewerbes, traf auf eine erst aufzubauende Bauverwaltung, ließ der Spekulation gar breiten Raum. Die Wohnungsnot trat während der Gründerkrise in den 1870er Jahren in den Blick der Öffentlichkeit, da die damals vornehmlich in Berlin hochgezogenen Mietskasernen in ihrer seriellen Ausdruckslosigkeit nicht den Vorstellungen des Bürgertums entsprachen. (5) Das galt noch stärker in reinen Industriezentren, etwa den Kohleregionen des Ruhrgebietes, der Lausitz oder aber Oberschlesiens, wo große Hütten die Daseinsfürsorge vielfach in eigene Hand nehmen mussten. Der Arbeiterwohnungsbau war dort notwendig und „ein gutes Mittel, Arbeiter in der Nähe der Arbeitsstätte seßhaft zu machen und sich einen Stamm tüchtiger Kräfte zu erhalten. In den Städten freilich kommt dieses Mittel weniger zur Anwendung, vielmehr vornehmlich auf dem Lande, wo es gilt, Arbeiter an abgesondert liegende Werke zu fesseln.“ (6) Doch gerade in diesen Regionen veränderte sich um die Jahrhundertwende die Art des Bauens: „Man war von den langweiligen und öden Reihenhäusern der ersten Bauperiode auf die abwechselnd gestalteten, gefälligen neueren Arbeiterhäuser gekommen“ (7). Diese architektonischen Veränderungen zielten allesamt tiefer, wollten mehr als die Regelung lokaler Probleme bei der Unterbringung von Arbeitern. Es ging um deren Verbürgerlichung, um ein Angebot für ein besseres, nicht proletarisches Leben. (8)

Praktiker warnten allerdings vor zu großen Erwartungen, wie sie insbesondere im protestantischen Bürgertum gehegt wurden. Deren religiös geprägter Idealismus setzte vielfach nicht bei der Lebenswelt der damaligen Arbeiter, ihren Nöten und Vorstellungen an. Die Liebe für das Land war bei denen, die zumeist vom Land in die Stadt gezogen waren, um dort ein besseres Leben zu führen, nicht sonderlich ausgeprägt: „Meist findet man eine Vorliebe für das Landleben, den Wunsch, ein Einfamilienhaus außerhalb der Steinmauern der Großstadt zu besitzen, erst bei den im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf Emporgekommenen, denen, die über die gröbste Sorge hinaus sind, vor allem den Gebildeten und den Angehörigen der oberen Gesellschaftsklassen. Es ist aber durchaus irrig, diese Liebe zur Natur ohne weiteres auch bei den anderen Stadtbewohnern vorauszusetzen.“ (9) Zum anderen aber gab es beträchtliche Probleme bei der Umsetzung ambitionierter Wohnungsbauprojekte. Güterabwägungen waren erforderlich, denn die für Arbeiter möglichen Kleinwohnungen konnten nicht deutlich über dem Einkommensniveau einer Region liegen, mussten also erschwinglich sein. Anderseits mussten sie der sich gerade um die Jahrhundertwende rasch entwickelnden Konsumkultur zumindest ansatzweise entsprechen. Dies schien die Quadratur des Kreises zu sein – und es ist kaum verwunderlich, dass die Skepsis sozialdemokratischer Theoretiker groß war. Für sie war die Wohnungsfrage eine Lohnfrage, würden erst höhere Löhne das Problem regeln. Doch auch sie wussten, dass größere Wohnungen relativ billiger waren, zumindest in Bezug auf die Miet- resp. Baukosten je Quadratmeter. (10)

Karl Siebold als Ideengeber der Boffzener Arbeitersiedlung

Protestantischer Erwecker. Der Architekt Karl Siebold (Stadtarchiv Gütersloh, Wikipedia)

All diese Debatten fanden auch in Boffzen Gehör und Widerhall, mochte sich die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land sowie die Arbeiterwohnungsfrage vor Ort auch anders stellen. Doch auch in Boffzen gab es ein protestantisches Bürgertum, etwa den Pastor Heinrich Emil Schomburg [Link Pfarrhaus] oder aber den Hüttenbesitzer Max Eugen Noelle. [Link Villa Noelle] Sie nahmen diese allgemeinen Debatten nicht nur zur Kenntnis, sondern griffen deren Lösungsvorschläge produktiv auf. Entscheidend für die Arbeitersiedlung Steinbreite wurden dabei die Vorschläge des Architekten Karl Siebold. (11)

Siebold stammte aus einer Pastorenfamilie im ostfälischen Schildesche (bei Bielefeld), aus einem Umfeld von protestantischer Erweckungsleidenschaft und Innerlichkeit. Das war nicht eine Stätte modernen Rationalismus, wohl aber eines reflektierten Idealismus, wie für die Wohnungsreform gewiss erforderlich. Siebold studierte Architektur an der Berliner Bauakademie, siedelte dann nach Bethel über. Bethel, das war damals vor allem Friedrich von Bodelschwingh, Sozialreformer und Menschenfänger, dessen Anstalten Maßstäbe für die protestantische Sozialarbeit setzten. Siebold profitierte von Bodelschwinghs Vorarbeiten im Kleinwohnungswesen, die 1885 in den Verein „Arbeiterheim“ mündeten.

„Eigener Herd auf eigener Scholle“ – Die Wohnkolonie des Deutschen Vereins Arbeiterheim (Behrendt, 1898, 1)

Bodelschwingh war Teil der breiteren Wohnreformbewegung, für die er predigte und warb. (12) Sein Ziel war „eigener Herd auf eigener Scholle“, die rasch errichtete Wohnkolonie bildete einen Gegenentwurf zur Verstädterung der modernen Industriegesellschaft. Es ging um ausreichende, bezahlbare Familienwohnungen, um ein ländlich zufriedenes Leben, um „Häuschen, Gärtchen und Schweinchen“, so Bodelschwingh. Siebold wurde technischer Leiter der Versuchsstation des Vereins „Arbeiterheim“, experimentierte mit Grundrissen, Baumaterialien und architektonischen Formen, ehe er 1891 die Leitung der Bauverwaltung der Bodelschwinghschen Anstalten übernahm. (13)

Als solcher wurde Siebold bekannt, sein Hauptinteresse galt jedoch dem Kirchenbau, schuf er doch nicht weniger als 36 evangelische Kirchen und acht Kapellen. Aber er baute zudem Wohnsiedlungen, etwa auf der Zeche Radbod bei Hamm in Westfalen, im benachbarten Kamen, bei St. Avoid in Lothringen. Rentengüter im siegerländischen Weidenau waren darunter, doch auch Siedlungen in Niedersachsen: 80 Kleinwohnungen in Wietze bei Celle, immerhin zehn in Carlshafen an der Weser. (14) Boffzen lag in der Nähe, doch Siebold baute hier nicht. Die Arbeitersiedlung Steinbreite ist ohne seine Broschüre „Viventi satis“ von 1906 jedoch nicht denkbar. (15) Sie wirkte vor Ort, wirkte insbesondere auf Max Eugen Noelle.

Arbeiterwohnungsbau im niedersächsischen Stil. Arbeiterhaus in Wietze bei Celle (Siebold, 1910, 76)

Siebold entwickelte darin mit klaren Strichen seine Antwort auf die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land sowie die Wohnungsfrage. „Das Ideal wäre: überall sesshafte Leute auf eigenem Grund und Boden.“(16) Er plädierte für eine an die örtlichen Verhältnisse angepasste Formsprache, für billige Eigenheime für alle. Das erforderte „ländliches“ Bauen, also den Verzicht auf Kanalisation oder ausgebaute Nebenwege. Für lediglich 3500 M sollte ein solches Haus möglich sein – das waren für die bestbezahlten Boffzener Glasbläser etwa zwei Jahreslöhne. Die Häuser verzichteten auf Komfort, boten jedoch relativ viele Räume in Keller, Erdgeschoss und erster Etage: Viventi satis – Genug zum Leben. Das diente einem sittlichen Familienleben, sollten doch auch die Kinder nicht alle zusammenschlafen, sondern nach Geschlechtern getrennte Zimmer erhalten. Auch für Ziegen und Schweine gab es kleine Stallungen, ebenso für die unverzichtbaren Hühner. Die Häuser hatten allesamt einen Garten, doch neben den Magen trat auch das Gemüt. Vor dem Haus konnten Blumen und Ziersträucher angepflanzt werden, hinter dem Haus folgte ein Hof mit Bäumen für Mensch und Tier, schließlich der Gemüsegarten für Kartoffeln, Kohl und andere Leckereien. Ziel all dessen war es, „hoffnungsvolle Leute zu schaffen, die ‚festsitzen am Grund und Boden‘, Heimatgefühl haben und als glückliche unabhängige Menschen schliesslich selbst neben dem Viventi satis gern an ihres Hauses Giebel schreiben werden das wahrhaft Freie noch viel schönere: ‚Morituro satis‘“(17) – genug zum Sterben.

Vorbilder für die Arbeitersiedlung Steinbreite: Arbeiterwohnungen in Bethel (Siebold, 1906, nach 6)

Die Schrift erregte ein gewisses Aufsehen in Fachkreisen, nicht zuletzt wegen der darin enthaltenen polemischen Spitzen gegen die zu strikte Regulierung durch Baupolizeiverordnungen. Es folgten Aufträge, so etwa für die angesprochene Arbeitersiedlung der Zeche Radbod bei Hamm in Westfalen. Sie hat einige Ähnlichkeiten mit der Siedlung in der Steinbreite in Boffzen, war jedoch gänzlich anders dimensioniert, entstanden hier in der ersten Bauphase von 1906 bis 1909 doch 830 Häuser. (18)

Blick auf die Sieboldschen Arbeitersiedlung in Radbod (Siebold, 1910, 73)

Wichtig war, dass die einzelnen Häuser die Wünsche der Arbeiter berücksichtigten, dass sie zugleich eine Art dörfliches Ensemble schufen, obwohl sie allesamt die gleiche Grundausstattung boten. Siebold hat seine beim Bau gemachten Erfahrungen kurz darauf nochmals reflektiert und dargelegt. (19) Leitlinie war die gleichberechtigte Verbindung sozialer, wirtschaftlicher und architektonisch-technischer Aspekte: Sozial waren diese Siedlungen einem protestantisch-konservativem Menschen- und Gesellschaftsbild verpflichtet: „Ein gesundes Staatsleben beruht auf gesundem Familienleben. Nicht nur ein besonderer Volksstamm liebt das Einzelhaus, es ist das Naturgemäße für jede Familie, wie man aus der Geschichte der Völker erkennen kann. Das Ungesunde unserer jetzigen Bauweise ist zwar entwickelungsgeschichtlich verständlich, muß jetzt aber verschwinden.“ Ihm ging es daher um den Kampf gegen das städtische „Herdenwohnen, das unserer Entwickelung nicht mehr entspricht. Darum hinaus vor die Städte, auch wo noch keine Verkehrsgelegenheit vorhanden ist, sie wird schon nachfolgen, sobald die Ansiedelung geschehen! Gartenstädte, Gartendörfer!“ Wirtschaftlich plädierte Siebold für erschwingliche Wohnungen, möglichst ohne Subventionen von Industriebetrieben. Dazu nahm er den Staat, insbesondere als Kommune, in die Pflicht, hatte dieser doch Baugrund zu erwerben und auf Kredit- oder Erbpachtbasis weiterzureichen. Finanziert werden sollte all dieses durch eine angemessene Hypothekensteuer. Umsetzbar war dies nur bei einer praktischen und einfachen Bauweise. Aufgabe sei es, „unseren Mitmenschen zu einer menschenwürdigen Wohnung zu verhelfen und alle unsere Kräfte darauf zu richten, unter Benutzung der heutigen zahlreichen technischen Mittel einfache, aber doch ansprechende, hübsche Wohnungen mit genügenden Räumen zu schaffen, zu Preisen, die es einem normalen gesunden Arbeiter ermöglichen, ein kleines Häuschen zu erwerben, oder wenigstens mietweise zu bewohnen. Um das zu können, muß man freilich mit den Traditionen des alten Städtebaues sowie der städtischen Bauweise radikal brechen.“ All das war Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs vor dem Ersten Weltkrieg, der auch das konservativ-nationale Milieu ergriff. Wichtig war Leipold schließlich – hier ist er Teil des Heimatschutzes –, dass die Häuser örtlichen und regionalen Baustilen verpflichtet blieben.

Häuser mit Gärten – Planungen in der Steinbreite 1909 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Gemeinde Boffzen)

Gemächlich und gründlich: Der Bau der Siedlung Steinbreite

Der nationalliberale Boffzener Glashüttenbesitzer Max Eugen Noelle war von diesen Plänen beeindruckt: „Und als später ein Bauernhof zur Versteigerung kam, kaufte die Firma ein Stück Land unterhalb der Hütte in Größe von 12[?] Morgen, legte eine Straße hindurch und stellte den Arbeitern dies Land zum Wohnungsbau zur Verfügung. Sie ließ aus Bethel bei Bielefeld Pläne für Einfamilienhäuser kommen und so entstand eine neue Siedlung.“ (20) Es ist wahrscheinlich, dass die typisierten Entwürfe Siebolds von der Baufirma August Knop an die Verhältnisse vor Ort angepasst wurden.

Die Arbeitersiedlung Steinbreite entstand seit 1906 Haus um Haus. Die Wohnungen waren größer und hygienisch besser ausgestattet als die Häuser im Boffzener Dorfkern – und insbesondere als die früheren Arbeiterwohnungen der Glashütten. Die Haustypen variierten zwischen Mehr- und Einfamilienhäusern, alle besaßen Gartenland und Stallungen. Als 1913 Ludwig Düsterdiek und August Pöppe in ihre Mietshäuser zogen, hatten fünfzehn Glasmacherfamilien ein neues Zuhause erhalten.

Raumplan des Erdgeschosses des Hauses des Glasmachers Heinrich Böker, Steinbreite 6 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Während das Äußere sich schon aufgrund des Sollinger Sandsteines in die dörfliche Umgebung einfügte, folgten die Raumpläne den Ideen, die Siebold erst in Bethel, dann an anderer Stelle umgesetzt hatte: Keller, Erdgeschoss und erste Etage; relativ viele Räume für Kinder und die Eheleute; gesonderte Arbeitsräume für die Hausfrau, um die Küche wohnlicher zu machen; Platz für Kleinvieh und Gartengewächse; keine Kanalisation, doch zentrale Wasserversorgung. All das war erschwinglich, auch für die Glasarbeiter Boffzens.

Steter Ausbau: Errichtung einer Laube für die Witwe des Glasmachers Albert Dormann 1912 (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Schon kurz nach dem Bezug begannen die Bewohner dann mit der Umgestaltung, mit der Verschönerung ihrer Anwesen. Schuppen wurden ergänzt, eine Laube errichtet. Die Arbeitersiedlung Steinbreite bot genug zum Leben. Die ach so billigen Häuser stehen immer noch, aus- und umgebaut, dem heutigen Leben angepasst. Aus Arbeitern sind Bürger geworden, Mitbürger in einem auf Kompromiss aufgebauten Gemeinwesen, das immer noch um Antworten ringt auf die soziale Frage, die Entfremdung von Stadt und Land und die drängende Wohnungsfrage.

Uwe Spiekermann und Stefanie Waske, 4. November 2020

Anmerkungen
(1) W[ilhelm] Kähler, Moderne Arbeiterwohnungseinrichtungen, Soziale Praxis 12, 1902/03, Sp. 1155-1156, hier Sp. 1159.
(2) Georg Stöcker, Agrarideologie und Sozialreform im Deutschen Kaiserreich. Heinrich Sohnrey und der Deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege 1896-1914, Göttingen 2011.
(3) Heinrich Sohnrey (Hg.), Wegweiser für Ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege, 3. verb. u. verm. Aufl., Berlin 1909.
(4) Willy Lange, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Land- und Gartensiedlungen, Leipzig 1910, V-VIII, hier V.
(5) Plastische Schilderungen finden sich in Wilh[elm] Gemünd, Neuere Bestrebungen auf dem Gebiete der Wohnungs- und Städtehygiene, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 44, 1912, 412-434, hier 412-414. Vgl. allgemein Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810-1900, Wien 1987, 244-277 und insbesondere Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914. Bilder – Daten – Dokumente, Münster 1985.
(6) Carl Johannes Fuchs, Wohnungsfrage und Wohnungswesen, in: Ludwig Elster und Adolf Weber (Hg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaft, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Ergänzungsbd., Jena 1929, 1098- 1160, hier 1125-1126 (Zitat von Lehr).
(7) Kähler, 1902/03, Sp. 1155-1156.
(8) [Otto] Kamp, Wohnung, Hausrat und Wirtschaftsführung im deutschen Arbeiterhaushalt, Leipzig 1902.
(9) Gemünd, 1912, 424.
(10) Jos[ef] Kurth, Die Wohnungsfrage als Lohnfrage, Der Zeitgeist 6, 1913, 263-265.
(11) Zur Biographie vgl. Werner Siebold, Karl Siebold. Ein großer Baumeister Niedersachsens, Hemsbach a. d. Bergstraße 1940, 7-27; Ulrich Althöfer, Der Architekt Karl Siebold (1854-1937). Zur Geschichte des evangelischen Kirchenbaus in Westfalen, Bielefeld 1998, 31-61.
(12) Friedrich von Bodelschwingh, Landwirthschaft, Industrie und der Verein „Arbeiterheim“, Bielefeld 1892.
(13) Paul Behrendt, Der Deutsche Verein „Arbeiterheim“ und seine Versuchsstation, 2. umgearb. Aufl., Bielefeld 1898.
(14) Siebold, 1940, 64.
(15) K[arl] Siebold, Viventi satis. Ein Beitrag zur Lösung der Frage des Kleinwohnungswesen, Bethel 1906.
(16) Siebold, 1906, 1.
(17) Siebold, 1906, 9.
(18) Siebold, 1940, 30.
(19) Karl Siebold, Ländliche Ansiedelungen von Arbeitern, in: Willy Lange (Hg.), Land- und Gartensiedlungen, Leipzig 1910, 71-79 (auch für die folgenden Zitate).
(20) Geschichte der Brückfelder Glashütte von Max Eugen Noelle (Transkription des handschriftlichen Originals: Dr. Stephan Brandt, Berlin, Stand 2017), 2, Archiv Elisabeth Pophal.

Unternehmervillen zwischen Herrschaftsanspruch und Wohlstandsideal

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts griff die Industrialisierung zunehmend auch auf das Land aus, veränderte die soziale Zusammensetzung und das Erscheinungsbild vieler Klein- und Mittelstädte. Boffzen war bis dahin ein bäuerlich und handwerklich geprägter Ort gewesen, doch die Errichtung von gleich zwei Glashütten – 1866 die spätere Firma Noelle & von Campe, 1870 die Georgshütte G. Becker – änderte die lokalen Lebenszuschnitte grundlegend. Glasarbeiter und Unternehmer repräsentierten die entstehende Klassengesellschaft, mochten sich erstere auch vielfach noch als Handwerker oder gar Glaskünstler verstehen und sich letztere durchaus in die bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden Strukturen einer regionalen Handels- und Gewerbeelite einreihen. Die Entstehung der Glashütten im Brückfeld führte zudem zu neuen, im Gegensatz zum historischen Boffzen stehenden Bauten. Da waren erst einmal die Fabriken selbst, Stätten der Feuerarbeit, Zentren von Rohstoffzufuhr und Warenproduktion, gesundheitsgefährdende Großräume zuvor nicht bekannten Ausmaßes. Da waren aber auch Wohnungen für die Arbeiter, von Beginn an von den Hüttenbesitzern geplant und gebaut. Und da waren schließlich die Villen für die lokalen Unternehmer, die Familien Noelle, von Campe und Becker.

Westfassade und Nebengebäude der Villa Noelle (heute Seniorenheim Parkschlösschen) (2020) (Foto: Uwe Spiekermann)

Fabrik, Arbeiterwohnungen und Unternehmervillen waren neue Bautypen, klar unterscheidbar von den Gehöften der Handwerker und Gesellen, der Bauern und der Köter. Dort herrschte der tradierte Fachwerk- und Holzbau vor, wurde erst langsam durch Stein- und Massivbauten ergänzt. [1] Leben und Arbeit waren noch nicht getrennt, Vieh und Mensch lebten nah beisammen, mit dem wenigen vorhandenen Gesinde und Einliegern teilte man ein Dach. Heizung erfolgte an einem Platz, die Fenster waren klein, die Tür ein Tor. Das war bewährt, war Besitz, auch daher ansprechender als die ersten Ein-, Zwei-Zimmerwohnungen in den Arbeiterwohnungen der Hütten. Die Unternehmervillen waren aber etwas anderes, Ausdruck neu erworbenen Reichtums, Ausdruck eines anderen „privaten“ Lebens in und doch neben der Kleinstadt, dem Industriedorf. Blicken wir also genauer hin.

Was ist eine Unternehmervilla?

Das moderne Bürgertum entstand im späten 18. Jahrhundert, verstand sich als Leistungs- und Bildungselite abseits des Adels, des städtischen Pöbels, der Bauern und des sich langsam erst entwickelnden Arbeiterstandes. [2] Tüchtige Beamte, freie Berufe, zunehmend aber auch wagemutige Investoren prägten das Bild, allesamt verbunden durch die Tradition aufgeklärten Denkens und die Sehnsucht nach einer idealisierten Antike. [3] Rom stand dabei für eine frühe Adelsrepublik, stand aber auch für einen gehobenen patrizischen Lebensstil, der seinen Ort nicht zuletzt in den Villen der politischen und gesellschaftlichen Elite fand. Die Renaissance hatte diese Tradition fortgeführt, die englischen Landvillen sie im 18. Jahrhundert neu belebt.

Es verwundert daher nicht, dass wohlhabende, meist aus dem Handels- und Bankensektor stammende Bürger diese Vorbilder aufgriffen und sich repräsentative Landhäuser auch abseits der noch überschaubaren Städte erbauten. Orientierte man sich dabei insbesondere am englischen Landadel, so setzte man doch zunehmend eigene Akzente, stellte eigene Bedürfnisse in den Vordergrund. [4] Diese richteten sich sowohl nach innen als auch nach außen. Einerseits schuf man großzügige Räume des Privaten, in denen man als Kleinfamilie mit Dienstboten die Werte der eigenen Schicht leben konnte. [5] Anderseits repräsentierte die Villa den Reichtum und den Anspruch der Bauherren. Unternehmervillen waren in Stein geronnene Herrschaftsansprüche. Das betraf erstens die gesellschaftliche Stellung des Wirtschaftsbürgertums, das mit zunehmender Industrialisierung und den damit verbundenen hohen Gewinnen anhob, Adel und Militär als führende Funktionseliten abzulösen. Zweitens war die Unternehmervilla ein wichtiges Element zur Abgrenzung gegenüber den Beschäftigten der eigenen Firma, unterstrich die eigene Tüchtigkeit und Entscheidungsfähigkeit, repräsentierte die Autorität des Besitzes und den Anspruch auf Gehorsam.

Regionales Vorbild: Die 1896 erbaute Höxteraner Villa des Fabrikanten Wilhelm Haarmann (2014) (Wikipedia)

Etwas anschaulicher? Nun, die Unternehmervilla war ein freistehendes, größeres Einfamilienhaus, „das in einer Garten- oder Parkanlage liegt und die Distanz zur Außenwelt schafft. Neben der Familie sind im Haus oder in einem Nebengebäude dauerhaft oder zeitweise die Dienstboten untergebracht. Hauptsächlich unterscheidet sich die Villa von anderen Wohngebäuden durch ihr Raumprogramm und dessen Anordnung sowie die Verteilung in den Geschossen. Üblicherweise liegen die Repräsentationsräume, wie Herren-, Wohn-, Speisezimmer und Salon im Erdgeschoss über dem sich im Obergeschoss die Privaträume des Hausherren und seiner Familie befinden. Diesem Raumprogramm liegt eine Grundrissgestalt zugrunde, die bestimmte Elemente, wie beispielsweise Erker, Altan oder Veranda, als äußere Gliederungselemente erzwingt und somit auch ein bestimmtes Erscheinungsbild nach Außen fordert.“ [6] Die Unternehmervilla war ein exklusiver Bau, geprägt von vielgestaltigen Bauaufgaben: Ein Grundstück musste gefunden, Wohnhaus und Nebengebäude darauf angeordnet werden. Ställe und Garagen, Kutscher- und Maschinenhaus, Gewächshaus und Remisen – es gab viel zu bedenken. Und dann die Anordnung der Zimmer im Wohnhaus, ihre Ausstattung. Ähnliches galt für den Garten, kein Nutzgarten, sondern ein Pläsiergrund, ja, ein Park. Wichtig war schließlich noch die Einfriedung, die Trennung des behüteten Innenraumes von der drängenden Außenwelt. [7]

Die Villa als Schloss des Unternehmers: Villa Siemens am Stolper Loch in Wannsee (Illustrirte Frauen-Zeitung 22, 1895, 117)

Waren die Villen anfangs noch gediegen, so weiteten sie sich seit der Jahrhundertmitte, verstärkt aber seit der Gründerzeit nach Etablierung des Deutschen Reiches 1871. Der Adel stand vielfach Pate, die Villen glichen teils Schlössern. Freistehend, waren sie schon von weitem erkennbar, markierten Landschaft und Umgebung. Sie wurden von freien Architekten und Baumeistern geplant, die nicht allein technische, sondern vor allem kulturelle Ansprüche erfüllten. [8] Sie griffen zurück auf die Formsprache der Macht der Vergangenheit, stellten die Unternehmer damit in einen Herrschaftszusammenhang. Zahlreiche historisierende Fassaden und Formen waren die Folge, Renaissancebauten, Klassizismus, die „deutsche“ Gotik, mehr spielerische Rokokoformen, vor allem aber der klobig-ausladende, Solidität und Wohlstand repräsentierende Barock. Hinter den Fassaden herrschte trotz dieser äußerlichen Vielfalt ein einheitliches Raumkonzept. Im „Erdgeschoss die Gesellschaftsräume, darunter ein großer Speisesaal. Sie waren vom familiären Wohnbereich klar geschieden. Gleichfalls separiert wurden die Personal- und Wirtschaftsräume, in größeren Häusern sogar in einem eigenen Trakt samt Dienstbotentreppe. Der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre diente auch das Herrenzimmer: Hierhin konnte sich der Hausherr zu wichtigen Gesprächen mit seinen leitenden Angestellten zurückziehen und geschäftliche Kontakte pflegen. Die großzügige Halle, oft mit mehrläufiger Treppe, diente als repräsentatives Entree. Sie wurde nicht selten mit Wandvertäfelungen, Marmorinkrustationen und Stukkaturen aufgewertet. Unverzichtbar waren der Wintergarten, ein Musik- oder Billardzimmer, Gästezimmer und moderne Bäder. Im Idealfall war die Villa des Großindustriellen der Ort, von dem aus er die Fäden des Unternehmens zog und wo zugleich das bürgerliche Familienideal gelebt wurde: repräsentativ, funktional und wohnlich.“ [9]

Dahlemer Pracht des Kommerzienrates Jakob Mandelbaum (Berliner Leben 16, 1913, Nr. 8, 14)

Zwei Punkte sind festzuhalten: Historisierende Fassaden und Inneneinrichtung dürfen erstens nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unternehmervillen technisch modern waren. Sie waren Trendsetter moderner Heizsysteme, von fließendem, gar warmem Wasser, von elektrischem Licht, von Telefon und allerlei Spielereien des elektrischen Zeitalters. Dazu konnten Kühlräume gehören, frühe Kühlschränke, gar Staubsauger. Effizienz im Betrieb und in der Villa gingen Hand in Hand, mochte die Haustechnik auch den Blicken der Gäste verborgen sein. Die Unternehmervillen unterschieden sich dadurch deutlich von den alten Gemäuern des Adels – wobei dieser im späten 19. Jahrhundert durchaus bauwütig war. Das Alte wurde mit Neuem verbunden, das unterschied den erfolgreichen Bürger vom verzopften Adel. Das war wahrer Luxus, ein Amalgam kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritts.

Tradierte Verbindung von Arbeit und Privatleben: Warte- und Sprechzimmer im Erdgeschoss der zu Unrecht so benannten „Villa“ des Boffzener Arztes Karl August Friedrich Leusmann (1904) (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Zweitens gab es neben einigen hundert wirklich herausragender Bauten eine deutlich größere Zahl weniger luxuriöser Villen. [10] Im späten 19. Jahrhundert entstanden vielfältige und unterschiedlich gestaltete Villenviertel in den Wirtschaftszentren, in denen sich wahrlich gut leben ließ, abgeschottet von Kleinbürgern und Arbeitern. Auch Halbvillen konnte man kaufen, hier war der Park zum Garten mutiert. [11] Das war Teil des Erfolges bürgerlicher Existenz, den sich nun mehrere Prozent der Bevölkerung leisten konnten. Es war aber auch beredter Ausdruck der Klassengesellschaft, die zu einer zuvor nicht gekannten sozialräumlichen Segregation insbesondere in den Metropolen führte. [12] Das wurde im Bürgertum durchaus selbstkritisch wahrgenommen und war einer der Gründe für die um die Jahrhundertwende anschwellende Kritik an der Villa als solcher, der Unternehmervilla im Besonderen.

Familienwappen oberhalb des Eingangs zur Villa von Campe (2020) (Foto: Uwe Spiekermann)

Das betraf erst einmal den historisierenden Stil der Bauten. Der Architekt und spätere Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Hermann Muthesius vermerkte 1905 mit bissigem Spott: „Wenn man heute unsere Vororte durchstreift, so findet man Häuser, an denen der ganze Motivenschatz eines Zeitalters angebracht ist. Giebelchen, Erkerchen, Türmchen drängen und schieben sich förmlich. Man sieht keine Wand, die nicht durch Risalite, Vorbauten und zurückspringende Teile unterbrochen wäre, und keinen Quadratmeter Fläche, der nicht irgend ein Dekorationsmotiv aufwiese. In dem Streben nach Wechsel sind am selben Bau alle Materialien herangeholt und verwendet, die der Baumarkt bietet, und im allgemeinen hat man den Eindruck einer großen Narretei. Es herrschen die Ideale des Maskenballs. Man hängt dem Haus tausend bunte Flicken und Fetzen an und freut sich desto mehr, je burlesker die Gesamterscheinung geworden ist. Wäre nicht jeder Mensch in den Moden seiner Zeit befangen, so würde man diese heutige deutsche Villa allgemein als die Ausgeburt der Lächerlichkeit empfinden.“ [13] Das Bürgertum war selbstkritisch geworden, wuchs über ein Zeitalter der Behaglichkeit und des wachsenden Wohlstandes hinaus. Der Kunsthistoriker Max Creutz verkündete 1906 eine neue Zeit, habe man doch gelernt, „daß die Ausdrucksformen alter Kulturen untergegangen sind mit den Menschen, die sie geschaffen, daß architektonische Formen im letzten Grunde identisch sind mit der Sprache lebendiger Menschen, die nur selbst erlebte Empfindungen und Anschauungen vermitteln können.“ [14] Historismus und Jugendstil endeten, neuere funktionale Bauformen traten hervor, Dekore dagegen zurück. Das veränderte nach der Jahrhundertwende gerade den Villenbau, der vielfach vorwegnahm, was nach dem Ersten Weltkrieg mit dem „Neuen Bauen“ radikalisiert wurde.

Das „traute Heim“ als Ideal bürgerliches Wohnens und Lebens

All diese Entwicklungen strahlten auch auf das Weserdorf Boffzen aus. Gewiss, dort bildete sich kein gesondertes gutbürgerliches Viertel heraus, denn dafür hatte es zu wenig Einwohner. Und doch ging die Gründung von Glashütten und Arbeiterwohnungen mit einer Trennung des Ortes einher, verkörperte Brückfeld doch die industrielle Moderne. Zugleich aber separierte sich kurz nach der Jahrhundertwende die unternehmerische Elite auch baulich von ihren Fabriken ab, trennte so Gewerbe und Arbeiterschaft vom wirtschaftsbürgerlichen Heim.

Noch in Nachbarschaft zur eigenen Glashütte: Villa Becker mit Park (2013) (Foto: Stefanie Waske)

Der Grund für dies war nicht allein Dünkel oder eine Abkehr vom Dreck und Lärm der Glasherstellung. Es ging vielmehr um bürgerliche Identität, also um ein Leben, das heutzutage für die Mehrzahl der Bevölkerung gilt und unser Wohnen im Grundsatz nach wie vor prägt. Das bürgerliche Heim schuf eine Grenze zur äußeren Welt mit ihrer Unruhe und Brutalität, war Schutzraum des Individuellen. Anders als im Handwerker- und Bauernhaushalt mit ihrer direkten Kopplung von Leben und Arbeit war es ein Ort, der erstens von der Güterproduktion, zweitens von der Hausarbeit getrennt war. Letztere wurde an Dienstboten übergeben, erst dadurch wurde die Hausfrau zur gebildeten bürgerlichen Frau. Das bürgerliche Heim repräsentierte Wohlstand, wurde entsprechend mit vielfältigen Konsum- und Kunstgütern bestückt. Es war ein Ort der Geselligkeit, des Treffens mit Gleichgesinnten und Gleichgestellten. Zugleich aber war es Ort von Freizeitaktivitäten, sei es des Lesens, Schreibens – man denke an Briefe –, der Hausmusik, der Gartenarbeit und vielerlei Passionen.

Standesgemäßeres Wohnen: Plan des 1914 angefügten Wintergartens der Villa von Campe (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Auch Unternehmervillen waren traute Heime. Doch zugleich waren sie Bühnen, denn Bürgertum musste zelebriert, musste im Alltag dargestellt werden. Die Villen waren deshalb geteilt. Die Privaträume befanden sich in einem anderen Stockwerk als die Schaubühne des Salons, der Herren- und Rauchzimmer. Der spielerische Charakter wurde durch einen hinführenden Eingang unterstrichen, mit vielfältigen Möbelstücken, Gemälden und ansprechenden Gegenständen ausgestattet. Das Gespräch, die Geselligkeit hatte damit seinen Ort, Garten und Park konnten diesen weiten, Veranda und Wintergärten boten Übergangsräume. Doch so spielerisch all dies war, so war es doch auch Ausdruck klarer Funktionszuweisungen, dem Erkennen des Gebotenen. Die Räume, allesamt, hatten nämlich klare Funktionen. Küche, Esszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Lagerraum, Dienstmädchenstube – diese Namen waren Gebote, das Leben im Hause folgte Regeln, die Zimmer gaben ihm Raum. Das spiegelte Erwartungen, auch die Kälte vieler von Konventionen geprägten Beziehungen, selbst zwischen Kindern und Eltern. Doch es ermöglichte Privatheit, eröffnete Rückzugsräume. [15] Hinzu kam vielfach ein Klavier, wenngleich nicht derart obligatorisch wie in Großbritannien und insbesondere den USA. Der Stilwirrwarr von Plüsch und Nippes, von Standuhr und Tapete galt dabei nicht als Ausdruck fehlenden Geschmacks, sondern zeigte im Gegenteil die Bewohner als souveräne Steuerleute in der Vielfalt historischer Stilformen. Das Wohnen abseits der hastenden, dynamischen Stadt, im Villenvorort, in der Landschaftsvilla oder auch einer Unternehmervilla im industriedörflichen Boffzen hatte dabei besondere Vorteile. Was dort in Hast erworben wurde, sollte auf dem Landsitz „in Ruhe genossen werden. Hier handelt es sich mehr um eine persönliche Art, die auch für den Menschen einige Zeit erübrigt. Im Zusammenhange mit Natur und Umgebung kommt dort die Stimmung wieder zu ihrem Rechte.“ [16]

Abgrenzung und Anreize zum Aufstieg – Villa versus Arbeiterwohnung

Die Unternehmervilla ist ohne die Arbeiterwohnung nicht denkbar. [17] Beide stellen Loslösungen von der vorindustriellen Denk- und Lebensform des „ganzen Hauses“ dar, also einer vor allem in der Landwirtschaft oder aber im Kleingewerbe bestehenden Arbeits- und Wohngemeinschaft von Meister und Gesellen, von Bauer und Knecht. In den frühen Fabriken konnten die Arbeiter schon aufgrund ihrer Zahl kaum mehr auf dem Betriebsgelände untergebracht werden, doch hausten sie zumeist in unmittelbarer Nähe, wenngleich nicht immer in eigener Wohnung, höchst selten im eigenen Haus. [18] Die Unternehmer blieben ihrem Betrieb räumlich nahe, vielfach errichteten sie ihr Wohnhaus auf gleichem Grund, zumindest aber in unmittelbarer Nähe. Dies drückte die Verbundenheit zum eigenen Geschäft aus, zugleich aber auch Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Geschehen; und dies war eine Anspruchshaltung auch gegenüber den eigenen Arbeitern und Bediensteten.

Die Unternehmer verstanden sich – durchaus im Sinne von ständischen Gesellschaftsmodellen der vorindustriellen Zeit – nicht nur als Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten Geld schuldeten, nicht mehr. Sie waren ihnen, wie die Meister, wie die Bauern, immer auch „pater familias“, also gütiger und zugleich harter Vater. Loyalität wurde erwartet, zugleich aber sorgte er für seine Leute (und deren Familien), half auch abseits der Firma. Daraus entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein spezifisch paternalistischer Unternehmertypus, dessen Herr-im-Haus-Standpunkt höchst ambivalent zu bewerten ist. Er führte nicht allein zu intensiven und teils bis heute andauernden Kämpfen gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter, also ihren Zusammenschluss in Gewerkschaften, deren Ziel – im gut liberalen Sinne – Verträge, Tarifverträge waren, die Rechte und Pflichten definierten und nicht einseitig gesetzt worden waren. Patriarchale Unternehmer glaubten nämlich, ihre Arbeiter genau zu kennen – so wie Eltern ihre Kinder. Dabei gingen sie von ihrer relativen Bedürfnislosigkeit aus, einer Existenz ohne umfassendere Bildung, ohne Hang zum Höheren, ohne bürgerliche Werte. Sie glaubten, ihre Arbeiter anleiten, gar erziehen zu können und müssen, sie auf den rechten Pfad zu lenken, sie vor Trunksucht und Verschwendung zu bewahren. Diese „Sozialdisziplinierung“ war vielfach wohlmeinend, konnte jedoch in brachiale Maßnahmen münden, erwiesen sich die Untergebenen als widerspenstig.

Arbeiterwohnungen der Georgshütte G. Becker von 1871: Serielle Behausungen (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Die frühen Werkswohnungen für Arbeiter erzählen daher immer auch etwas über die Gedankenwelt der Unternehmer und die von ihnen einseitig gesetzten Unterschiede zwischen Arbeiter und Bürger. Die eigene Villa war dann zugleich Vorschein einer auch jedem tüchtigen Arbeiter im Prinzip möglichen Aufwärtsentwicklung, war Materialisierung eines Aufstiegsversprechens. Das war offenkundig mehr Ideologie als reale Möglichkeit, stellt doch die Unternehmerschaft bis heute eine exklusive Gruppe dar. [19] Die Unternehmervilla verkörperte aber nicht nur Reichtum, sondern verklärte diesen auch moralisch. Sie war demnach Resultat von Strebsamkeit und Fleiß, von Urteilsfähigkeit und einem Blick weit hinaus über die Grenzen des eigenen Betriebes. Villen präsentierten Unternehmer zugleich als Menschen mit Bedürfnissen, kulturellen zumal. Sie waren Ausdruck eines Lebensentwurfes, dem sich die Arbeiter folgsam anschließen sollten. Die Unternehmensvillen bildeten schließlich abgeschlossene Orte, Räume mit Mauern, Zäunen, einem vorgelagerten offenen Bereich. Ein direkter Übergriff war schwierig, die Villa meist mehr als einen Steinwurf von der Umfriedung entfernt.

In Boffzen war dieser immanente Schutz jeder Unternehmensvilla nicht wirklich erforderlich – auch durch die hohe Akzeptanz eines paternalistischen Unternehmensstils. Die vor dem Ersten Weltkrieg erbauten Arbeiterwohnungen dokumentieren zugleich eine gewisse Verbürgerlichung der Glasarbeiter, insbesondere derjenigen, die eine Wohnung in der Arbeitersiedlung Steinbreite erhielten. Diese Häuser waren durchweg größer, hatten ein Raumprogramm, enthielten auch eine „gute Stube“ zum Empfang von Besuch. Sie waren Orte gediegenen Daseins, noch ausgerichtet auf die Arbeit der Hausfrau in Garten und Küche. Doch sie dienten schon der Erholung nach langer Arbeit. Die grundsätzliche Differenz zwischen Arbeitern und Unternehmern wurde dadurch wahrlich nicht beseitigt, gar noch unterstrichen. Doch diese Arbeiterhäuser im langen Schlagschatten der Unternehmervillen am zuvor unbebauten Hoppenberg verwiesen schon auf einen gewissen sozialen und wirtschaftlichen Kompromiss, der seit den 1950er Jahren Kennzeichen der Bundesrepublik Deutschland werden sollte.

Ansatzweise Verbürgerlichung des Arbeiterwohnungsbaus: Die gute Stube für Besuch, die Küche für das Familienleben – Haus von Wilhelm Böker, Steinbreite 13 (1909/10) (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)

Während eine moderat wachsende Zahl von Arbeitern bürgerlicher wohnte, lief schon vor dem Ersten Weltkrieg die Ära der Unternehmervillen aus. Sie waren Kinder des 19. Jahrhunderts – und es verwundert daher nicht, dass in den drei Boffzener Unternehmervillen schon seit langem keine Familiennachfahren mehr wohnen. Die Bauform machte praktischeren Häusern und Wohnungen Platz, allesamt noch repräsentativ, doch keineswegs derart raumgreifend wie die alten Häuser. Andere Konsumgüter übernahmen deren repräsentative Aufgaben, Automobile, exklusive Reisen, vielfältiger Besitz an mannigfachen Orten. Die Gediegenheit und Großzügigkeit der in großer Zahl erhaltenen Unternehmervillen kündet dennoch bis heute von einer Zeit, in der das Bürgertum Fortschritt und Zukunftsideal repräsentierte.

Uwe Spiekermann, 31. Oktober 2020

Anmerkungen
[1] Matthias Seeliger, Boffzen. Alte Häuser erzählen, Horb a.N. 1990, insb. 5-15.
[2] Jürgen Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, Aus Politik und Zeitgeschichte 2008, Nr. 9/10, 3-9.
[3] Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln, Weimar und Wien 2009, 26-43.
[4] Miriam Bilke-Perkams, Saarländische Unternehmervillen zwischen 1830 und 1914 – unter besonderer Betrachtung der Region des Saarkohlenwaldes, Saarbrücken 2013, 32-33.
[5] Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, 333-359.
[6] Bilke-Perkams, 2013, 41-42.
[7] Barbara von Germersheim, Unternehmervillen der Kaiserzeit (1871-1914). Zitate traditioneller Architektur durch Träger des industriellen Fortschritts, München 1988, 11.
[8] Wolfgang Brönner, Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830-1900, 3. Aufl., Worms 2007.
[9] Bettina Vaupel, Unser Reichtum gestattet es. Die Villen der Industriellen im Ruhrgebiet, Monumente-Online 2017, April-Nr. https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2017/2/Industriellen-Villen-Ruhrgebiet.php (Abruf 29.10.2020 (auch für das Folgende)).
[10] Thomas Weichel, Bürgerliche Villenkultur im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein und Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1986, 234-251.
[11] Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, insb. 138.
[12] Clemens Wischermann, Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg, Münster 1983, 266-294.
[13] Hermann Muthesius, Die Bedingungen und die Anlage des modernen Landhauses, in: Das moderne Landhaus und seine innere Ausstattung, München 1905, I-XVI, hier IV.
[14] Max Creutz, Forderungen und Ergebnisse der modernen architektonischen Entwicklung, Berliner Architekturwelt 8, 1906, 279-282, hier 281.
[15] Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, 85-87 (auch für das Folgende).
[16] Creutz, 1906, 281.
[17] Hermann Sturm, Fabrikarchitektur, Villa, Arbeitersiedlung, München 1977.
[18] Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810-1900, Wien 1987, 244-277; Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914. Bilder – Daten – Dokumente, Münster 1985, 251-259.
[19] Werner Plumpe und Christian Reuber, Unternehmen und Wirtschaftsbürgertum im 20. Jahrhundert, in: Gunilla Budde, Eckart Conze und Cornelia Rauh (Hg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, 151-164.