Ab 1944 wurden in Boffzen von der Hohlglashütte Noelle & von Campe Glasminen hergestellt. [1] In der Nachkriegszeit war dies Alltagswissen. Doch erst eine Anfrage des Historikers und Juristen Frank Baranowski führte 1995 zu Nachfragen bei der Samtgemeinde Boffzen. Cord von Campe, langjähriger Geschäftsführer von Noelle & von Campe, bestätigte damals den Sachverhalt, gab Mitte 1944 als Produktionsbeginn an, sprach von staatlicher Weisung. [2] „In der Glashütte Noelle wurden zum Kriegseinsatz Glasminen hergestellt“ – so hieß es dann auch in der Boffzener Gemeindechronik 2006. [3] Diese klare Aussage war notwendig, überging die Ortschronik aus dem Jahre 1956 doch die gesamte NS-Geschichte der lokalen Glashütten. [4] Das Glasmuseum Boffzen benannte 2016 in seiner Ausstellung „Von wegen ‚nur‘ Einkochgläser – 150 Jahre Noelle und von Campe“ die lokale Produktion von Glasminen. Die parallel vom Unternehmen initiierte und finanzierte Festschrift sparte hingegen diese Kriegsproduktion aus, folgte so der Vergangenheitsverdrängung der Vorgängerchroniken. [5] 2019 kaufte dann der damalige Verantwortliche für das Glasmuseum Boffzen, Manfred Bues, eine Glasmine an. Auf die folgende Presseberichterstattung meldete sich ein Zeitzeuge, der ihm bestätigte, dass er die Glaskörper vor Kriegsende transportiert habe. [6] Der Freundeskreis Glas entschied sich, dieses wichtige Thema mit dem Stelenweg 2020 aufzugreifen – um damit über die Glasmine und die Rüstungsproduktion bei Noelle & von Campe zu informieren.
Was ist eine Glasmine?
In der Glashütte Noelle & von Campe wurden die Glasbehälter der Glasmine 43 der deutschen Wehrmacht gefertigt. Dabei handelte es sich um eine gegen Personen gerichtete Landmine, umgangssprachlich auch Tretmine genannt. Sie konnte durch die damals gängigen Metalldetektoren nicht geortet werden, so dass der zumeist von Minenräumung begleitete Vormarsch gegnerischer Truppen verzögert werden konnte.
Hohlglasbestandteile der Glasmine 43 (Wikipedia)
Glasminen waren relativ klein. Sie bestanden aus einem Glastopf von ca. 14,5 cm Durchmesser und 8 cm Höhe. In dem Topf befand sich ein Zwischenboden, der den unten liegenden ca. 200 g schweren Sprengkörper von der oben befindlichen Zündvorrichtung abgrenzte. Die Mine wurde mit einem Glasdeckel von etwa 15 cm Durchmesser abgeschlossen. [7] Sie wurde in den Boden eingegraben, lag dann etwa 3-5 cm unter der Oberfläche. Der Glasdeckel brach bei einer Belastung von 10-12 kg, löste den Zündmechanismus aus, und die Mine explodierte. [8]
Die Glasmine schien eine relativ einfache Waffe zu sein. Doch sie war das Ergebnis aufwändiger Entwicklungsarbeit. Zwischen 1944 und 1945 wurde sie mit verschiedenen, zunehmend schwieriger zu ortenden Zündern ausgestattet. Die ersten Minen besaßen noch einen metallenen Hebelzünder SM 4, es folgte der Druckzünder DF 6 und dann der erste chemische Buck-Zünder. Am Ende stand der damals ortungssichere Glaszünder SF 14. [9] Die Entwicklung ging von der mechanischen zur chemischen Zündung, zugleich aber reduzierten die Konstrukteure immer stärker die Metallbestandteile im Zwischenboden, im Zünder und dem Gewinde des Sprengkörpers. Lediglich in der Sprengkapsel befanden sich schließlich noch kleine Aluminiumfolien.
Glasminen waren grundsätzlich wasserdicht, so dass sie nicht allein auf Land eingesetzt werden konnten. Die Glasmine 43(W) – W stand wohl für Wattenmeer – hatte eine größere Bodenplatte. Als Schützen-Küstenmine wurde sie auch unter Wasser eingesetzt. Einsatzorte bildeten Strände, Flussufer und Flusskreuzungen. Auch hierfür gab es unterschiedliche Zünder, anfangs der Reibungszünder SF 6, dann aber der damals nicht zu ortende chemische Zünder SF 18.
Der Begriff „Glasmine“ steht demnach für unterschiedliche Waffen. Es gab nicht die eine Glasmine. Die Glasböden waren je nach Sprengladung (200 g oder 150 g) unterschiedlich groß, auch die Art der Zünder hatte Einfluss auf die Glaskörper. Das Gewicht der Glaskörper differierte um bis zu 300 g, deren Höhe um bis zu 4 cm. Der obere Durchmesser wich um bis zu einem, der untere um bis zu zwei cm ab. Auch die Wandstärke variierte um bis zu 100%. Deutliche Unterschiede bestanden auch bei der Farbe: Es gab Minen mit farblosem, gelblichem, bläulichem und bräunlichem Glas. Die scheinbar einfache und einheitliche Waffe verwies damit auf ein zentrales Manko der deutschen Rüstung, nämlich die unzureichende Normierung der Waffen und die relative Unfähigkeit zu kostensparender Massenfabrikation. Dies war der Preis, den das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion in Kauf nahm, um Glasminen dezentral von mittelständischen Unternehmen, wie Noelle & von Campe, produzieren zu lassen.
Geräumte Glasmine 43 in Hoek van Holland mit Hebelzünder, August 1945 (Wikipedia)
Eine kleine Vergeltungswaffe
Die Glasmine 43 war eine kleine Vergeltungswaffe. Ihre Entwicklung resultierte aus der wachsenden Zahl von Niederlagen und erzwungenen Rückzügen der Wehrmacht. Sie war allerdings nicht allein Bestandteil einer zunehmend auf Defensivkraft setzenden Rüstung, sondern zielte auf das „Ausbluten“ der Gegner, um am Ende den objektiv illusorischen „Endsieg“ zu ermöglichen. Adolf Hitler selbst nahm Anteil an der Entwicklung der Glasmine, nahm befriedigt zur Kenntnis, dass diese „nicht radioelektrisch geortet werden könne wie die bisherigen Minen“. [10] Die Alliierten Streitkräfte waren 1944 in der Lage, die ab 1942 produzierten Holzminen zu orten. Metalle sollten eingespart, die Räumung weiter erschwert werden. Daraufhin wurde zuerst mit Keramik, dann mit Glas experimentiert. Für Glas sprachen einerseits niedrigere Kosten, anderseits aber die einfachere Fertigung. Die deutschen Glashütten waren schon von Kriegsbeginn an in die Wehrwirtschaft eingebunden, produzierten neben Rüstungsgütern vorrangig Gebrauchsglas. Die dafür erforderlichen Maschinen erlaubten vielfach auch die Herstellung der Glaskörper der neuen Mine. Sie wurde ab April 1944 an die Wehrmacht ausgegeben. [11] Festzuhalten ist, dass Glasminen bereits damals gegen das geltende Kriegsvölkerrecht verstießen. [12] Ihr Einsatz war damit grundsätzlich ein Verbrechen.
Glasminenproduktion im Deutschen Reich
Der Glasbehälter der Glasmine 43 erinnert an ein Konservierungsglas, während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Artikel von Noelle & von Campe. Die Glashütte gehörte zu einem breiteren Verbund vorrangig mittelständischer Glasproduzenten, die über das gesamte Großdeutsche Reich verteilt waren. Detaillierte Angaben sind schwierig, denn die zentralen Akten wurden während des Krieges zerstört. Auch in Boffzen soll nichts erhalten geblieben sein.
Insgesamt wurden 1944 9,887 Mio. und 1945 1,125 Mio. Glasminen produziert, also etwas mehr als 11 Millionen Stück. [13] Während dieses Zeitraums wurde im Anti-Personenminen-Sektor lediglich die Schützenmine 42 häufiger hergestellt (18,749 Mio. Stück). Diese hatte ein Sperrholzgehäuse, eine Sprengladung von ebenfalls 200 g TNT und explodierte bereits bei einer Last von unter 5 kg. Sie konnte jedoch mit üblichen Metalldetektoren geortet werden.
Mangels fehlender zentraler Akten ist die Rekonstruktion der Glasminenproduktion schwierig – wie ja auch das Beispiel Boffzens unterstreicht. Fasst man die sehr unterschiedlichen Überlieferungen einzelner Glashütten zusammen, so haben wohl die folgenden Betriebe diese Waffen gegen Kriegsende hergestellt:
Gifhorner Glashütte, Niedersachen
Annahütte, H. Heye Glas, Brandenburg
Glasfabrik H. Heye Germersheim, Rheinland-Pfalz
Glashütte Bernsdorf, Sachsen
Marienhütte Gnarrenburg, Niedersachsen
Ruhrglas AG Essen, Nordrhein-Westfalen
Siemens Glas AG Freital, Sachsen
Glashütte Kritzow, Mecklenburg-Vorpommern
Glasfabrik Brockwitz AG, Sachsen
Glashütte Noelle & von Campe, Niedersachsen [14]
Hinzu kamen wohl weitere Glashütten in Bayern und auch dem damaligen Protektorat Böhmen und Mähren. [15]
Staatliche Weisungen dürfte es nicht gegeben haben. Die Kommandowirtschaft des NS-Staates ließ Platz für unternehmerische Autonomie. Rüstungsaufträge konnten bis in die Endphase des Krieges abgelehnt werden. [16] Dies hatte allerdings Konsequenzen, nämlich geringe Rohstoff- und Beschäftigtenzuweisungen, niedrigere Gewinne, unter Umständen die Schließung des Betriebes. All dies wurde in den Glashütten abgewogen, am Ende dann der Rüstungsauftrag angenommen.
Die Glasminenproduktion erfolgte in verschiedenen Teilen des damaligen Reiches, deckte sich mit den Schwerpunkten der Glasindustrie etwa in der Niederlausitz oder aber dem Weserbergland. Die meist mittelständischen Betriebe waren durch den Bombenkrieg der Alliierten kaum auszuschalten, der Nachschub der Glasbehälter damit relativ sicher. Engpass für den Nachschub waren eher die Zünder, deren Herstellung wahrscheinlich stärker zentralisiert war. Anfang 1945 wurden beispielsweise 324.000 Glasminenzünder bei einem Luftangriff auf den französischen Ort Salbris zerstört.
Varianten der Glasmine 43: Oben mit Hebel-, unten mit chemischem Zünder (Intelligence Bulletin 3, 1945, Nr. 7, 32)
Eine präzise Analyse der Glasminenproduktion wird auch dadurch erschwert, daß die Glasteile nur selten mit den gängigen Glaszeichen der Hütten gekennzeichnet waren (also etwa NC für Noelle & von Campe). Stattdessen wurden zumeist Zahlen eingeprägt, teilweise aber auch darauf verzichtet. Ausnahmen waren die Glashütten Bernsdorf (Anker), die Glasfabrik H. Heye Germersheim (Bäumchen) und die Ruhrglas AG in Essen (Hammer und Schwerter). [17]
Glasmineneinsatz in der Wehrmacht
Glasminen waren vor allem Defensivwaffen. Es ging darum, Durchbruchslinien zu sichern und Flankenschutz zu gewährleisten. Minen halfen zudem, gegnerische Vorstöße zu verzögern, um dann stärkere Kräfte zu massieren. Sie sicherten zudem Truppenrückzüge, verzögerten insbesondere das rasche Nachstoßen gegnerischer Truppen. [18] Ihr Einsatz folgte einem militärischen Nutzenkalkül. Der durch die Glasminen verursachte Verlust eines Beines schaltete nicht nur einen gegnerischen Soldaten aus, sondern band zusätzliche Ressourcen im Sanitäts- und Transportwesen. [19] Das galt nicht nur für die unmittelbare Explosionswirkung der Mine, sondern in noch stärkerem Maße für ihre Splitter. Diese waren auf Röntgenbildern nicht sichtbar, entsprechend schwierig und aufwändig waren Diagnose und Therapie. Aus diesem Kostenkalkül heraus setzte die Wehrmacht Glasminen vor allem an westlichen Frontabschnitten ein. US-amerikanische und britische Truppen besaßen einen weiten höheren Mechanisierungsgrad und investierten deutlich höhere Summen in die Vermeidung von Todesfällen als etwa die sowjetischen (und auch deutschen) Armeen.
Verlegen von Glasminen zum Küstenschutz (Intelligence Bulletin 3, 1945, Nr. 7, I)
Glasminen wurden entsprechend erst einmal zur Befestigung der Küste der Normandie bzw. zur Verstärkung des Westwalls eingesetzt. Gesichert wurden auch deutsche Auffangstellungen in Mittelitalien. [20] Während der alliierten Invasion Frankreichs zeigte sich allerdings, dass selbst ein massiver Mineneinsatz Durchbrüche nicht verhindern konnte. [21]
Zum bekanntesten Einsatzgebiet der Glasminen wurde dann von September 1944 bis Februar 1945 die „Grenzlandbucht“ um das Wurmgebiet, das Jülicher Land und die Eifel. Die dort geschlagene Schlacht im Hürtgenwald mündete in massive Verluste der U.S. Army und einen taktischen Erfolg der Wehrmacht – wenn denn die Verlängerung eines längst verlorenen und damals täglich ca. 10.000 gefallene deutsche Soldaten kostenden Krieges mit diesem Wort bezeichnet werden kann. Die von Artilleriebeschuss durchfurchten Wälder waren mit Minen gespickt, darunter hunderttausende von Glasminen. Minenräumung war in diesem Umfeld kaum mehr möglich: „Unter den Minenräumern aber war der Tod. Das Suchgerät reagierte nicht auf Glasminen. Oder es verirrte sich unter den tausenden herumliegenden Metallteilen.“ [22] Auch für die deutschen Truppen bargen Glasminen beträchtliche Risiken, denn nicht selten gingen Minenpläne verloren, so dass neu eingesetzte Einheiten von den eigenen Waffen bedroht wurden. [23] Die erbittert geführten Kämpfe förderten zugleich einen prekären Mythos der Glasminen, die daher heute noch in Militaria-Kreisen hohe Aufmerksamkeit genießen.
Gegenüber den Kämpfen im Westen verblassen andere Einsätze der Glasminenwaffe. Prophylaktisch wurde etwa das Führerhauptquartier Wolfsschanze damit gesichert. Bekannt ist ferner der Einsatz von Glasminen und auch Glashandgranaten im Kampf um die sächsische Metropole Dresden. [24] Glasminen wurden zudem an Volkssturmeinheiten ausgegeben. [25]
Glasmine 43 mit Hebelzünder vor dem Verschließen (Intelligence Bulletin 3, 1945, Nr. 7, 30)
Glasminen gehörten zu den prägenden Erlebnissen nicht zuletzt deutscher Soldaten in der Endphase des Krieges. Der Historiker und Publizist Joachim Fest erinnerte sich an seinen Einsatz als 18-Jähriger: „Die Kompanie, der ich angehörte, kam nach Euskirchen, um auf einem halbfertigen Feldflughafen Glasminen zu verlegen. Die neuentwickelten Sprengkörper sahen wie Einweckgläser aus und zerbarsten bei der Explosion in unzählige winzige Splitter, die furchtbare Verletzungen hervorriefen. Tag für Tag, während wir im freien Gelände arbeiteten, tauchten Lightning-Tiefflieger auf und veranstalteten Schießübungen auf uns, die wir wehrlos inmitten der im Sonnenlicht blitzenden Glastöpfe lagen.“ [26] Der FAZ-Journalist Walter Henkels, während des Krieges Mitglied einer Propagandakompanie der Waffen-SS, machte später aus seiner Abscheu vor diesen Waffen keinen Hehl: „Wer kennt die Heimtücke der S- und T- und Riegelminen, der Mäusefallen, Ringelminen und Glasminen? Die Hauptteile der Schützen-Kastenminen nach der Heeresdienstvorschrift sind? Nun, was sind sie? Inbegriff des grausigen Schlachtens.“ [27]
Unzureichende Hilfsmittel für die Holz- und Glasminenräumung in den Niederlanden: Minenschuhe (Die Weltpresse 1945, Nr. 25 v. 16. Oktober, 8)
Derartige Wertungen hängen gewiss mit dem Wissen zusammen, dass es nicht zuletzt deutsche Kriegsgefangene waren, die die letztlich überwundenen Minenfelder mit vielfach unzureichenden Mitteln räumen mussten. Der Heidelberger Historiker Erich Maschke, ehedem ein überzeugter Nationalsozialist, vermerkte mit zynischer Zurückhaltung, dass man erfreulicherweise feststellen konnte, dass eine im deutsch-belgischen Grenzgebiet eingesetzte Minenräumkompanie „nur“ vier Tote zu beklagen hatte. [28]
Nachwehen: Konversion und das weltweite Verbot von Landminen
Nach der Befreiung fanden die Glasminen andere, mehr zivile Verwendung. Viele der 9,7 Mio. nicht verlegten Glasbehälter mutierten zu Blumentöpfen und Konservierungsgläsern, dienten als Behälter für Schmierseife und all die vielen kleinen Dinge, die das Leben im Frieden so lebenswert machten. [29] Bürgerliche Betriebsamkeit machte auch vor diesen früheren kleinen Vergeltungswaffen nicht Halt: Man liest von einer Firma, die Glasminenbehälter gewerblich zu Blumentöpfen umarbeitete, verziert mit zwei umlaufenden Bändern mit farbigen Punkten. [30]
Sowohl die Bundeswehr als auch die Nationale Volksarmee nahmen in den 1950er Jahren dann wieder Minen in ihre Waffenarsenale auf. Glasminen aber waren nicht darunter. Dennoch beschäftigen sie auch gegenwärtig Kampfmittelräumeinheiten, denn bis heute sind nicht alle Minen dieses Typs aufgespürt und entfernt worden. [31] Im Hürtgenwald haben Glasminen noch in der Nachkriegszeit zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert. [32] Im Gesamtgebiet werden bis heute noch etwa 8.000 dieser Waffen vermutet. Der westliche Uferbereich der Urft-Talsperre im Nationalpark Eifel ist nach wie vor eine Sperrzone. Hinzu kommen kleinere, durch Flatterbänder gekennzeichnete Gefahrenbereiche. [33]
Warnschild vor einem Minenfeld (Intelligence Bulletin 3, 1945, Nr. 5, 73)
Der Einsatz der Glasmine 43 führte aus all diesen Gründen zu einem Umdenken, zu einer generellen Revision beim Einsatz von Landminen. Die Initiativen gingen weltweit von Bürgern aus, nicht von den Staaten und Regierungen. Schon in den 1970er Jahren wurde ein umfassendes Landminenverbot auch mit Bezug auf die Glasmine 43 gefordert. [34] 1983 verbot ein erstes, am 3. Dezember erlassenes UN-Protokoll die Produktion von Landminen, die nicht geortet werden konnten und nicht über einen Selbstzerlegemechanismus verfügten. Das Verbot wurde durch ein weiteres UN-Protokoll 1983 erweitert und mündete schließlich in die Ottawa-Konvention vom 1. März 1999, durch die „Einsatz, die Produktion, Lagerung und Weitergabe von Schützenabwehrminen“ verboten wurden. [35] Gleichwohl sind damit Glasminen nicht gänzlich verschwunden. 2004 kamen die Waffen im kolumbianischen Bürgerkrieg neuerlich zum Einsatz. Als einfache und billige Waffen werden sie gerade in asymmetrischen Konflikten bis heute eingesetzt – völkerrechtswidrig, wie einst die deutschen Glasminen 43. Die Geschichte der Glasmine, sie ist bis heute nicht zu Ende.
Uwe Spiekermann, 12. Oktober 2020
Anmerkungen [1] Frank Baranowski, Rüstungsindustrie in Holzminden, Bevern und Boffzen, in: D[etlef] Creydt (Hg.), Zwangsarbeit für Rüstung, Landwirtschaft und Forsten im Oberwesergebiet 1939-1945, Holzminden 1995, 243-248, hier 245. [2] Stellungnahme der Samtgemeinde Boffzen vom 22. August 1995, Unterlagen Glasmuseum Boffzen. [3] Björn Lohnert, Geschichte der Neuzeit, in: Chronik der Gemeinde Boffzen, hg. v.d. Gemeinde Boffzen und Ulrich Ammermann, Beverungen 2006, 83-131, hier 120. [4] Otto Ahrens, 1100 Jahre Boffzen, Boffzen 1956. [5] 100 Jahre NC Glashütte, o.O. 1966; Sven Tode, Eine Welt in Glas. 150 Jahre Noelle + von Campe Glashütte 1866-2016, Hamburg 2016. Auch die nicht gedruckte Chronik Noelle + von Campe Glashütte GmbH. Chronik 1866-1981, o.O. 1981 erwähnt die Glasminenproduktion nicht. [6] Der Tod kommt aus dem Einweckglas, Täglicher Anzeiger Holzminden 2019, Ausg. v. 15. Mai. [7] Angaben n. Fritz Hahn, Waffen und Geheimwaffen des deutschen Heeres 1933-1945, Bd. 1, Koblenz 1986, 125. Detaillierte und illustrierte Beschreibungen enthalten Catalog of Enemy Ordnance Materiel, o.O. 1945, 278 und 304.6; The Glasmine 43, Intelligence Journal 3, 1945, Nr. 7, 30-33. [8] Kurt Rieger, Robert Johnson und Uwe Feist, Militärfahrzeuge of the Wehrmacht, Bd. 2, Bellingham 2008, 152. [9] Hahn, 1986, 125; Norman Youngblood, The Development of Mine Warfare. A Most Murderous and Barbarous Conduct, Westport, Conn. 2006, 115. [10] Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd. 19, hg. v. Herbert Michaelis und Ernst Schraepler, Berlin-West 1973, 53. [11] Hahn, 1986, 125. [12] Arbeitshilfen zur wirtschaftlichen Erkundung, Planung und Räumung von Kampfmitteln auf Liegenschaften des Bundes, hg. v. d. Bundesministerien für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung bzw. Verteidigung, Hannover 2007, A-10.1, 7. [13] Hahn, 1986, 132. [14] Gifhorns Glashütte baute Minen, WAZ-Online 2010, Ausg. v. 22. Dezember; Thomas Wünsche, Im „Einweckglas“ lauert der Tod, Schaumburger Zeitung und Landes-Zeitung 2016, 1. Februar und 26. Oktober; Pressglas-Korrespondenz 2001, Ausg. 5-6, 18 und 38; Pressglas-Korrespondenz 2016, Ausg. 2, 6; http://www.glasmuseum-gnarrenburg.de/; Agustin Saiz, Deutsche Soldaten. Uniforms, Equipment & Personal Items of the German Soldier 1939-1945, Madrid 2008, 277; Pressglas-Korrespondenz 2015, Ausg. 1-3, 7; Pressglas-Korrespondenz 2001, H. 5, Anhang; http://www.schatzsucher.de/Foren/showthread.php?p=334126&page=1; ebd., page=2 [Abrufe durchweg 4. Oktober 2020]. [15] http://www.schatzsucher.de/Foren/showthread.php?p=334126&page=1; http://de.sklarnaharrachov.cz/glashutte/geschichte [Abruf 4. Oktober 2020]. [16] Christoph Buchheim, Unternehmen in Deutschland und NS-Regime 1933-1945. Versuch einer Synthese, Historische Zeitschrift 282, 2006, 353-390; Jonas Scherner, Das Verhältnis zwischen NS-Regime und Industrieunternehmen – Zwang oder Kooperation?, Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51, 2006, 166-190; Peter Hayes, Corporate Freedom of Action in Nazi Germany, Bulletin of the German Historical Institute 45, 2009, 29-42; Norbert Frei und Tim Schanetzky (Hg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010. [17] https://www.militaria-fundforum.de/forum/index.php?thread/295608-glasmine/; http://www.schatzsucher.de/Foren/showthread.php?p=334126&page=1 [Abruf 4. Oktober 2020]. [18] Zur Entwicklung der Waffengattung vgl. Wolfgang Fleischer, Deutsche Landminen und Zünder bis 1945. Kampfmittel und Militärausrüstung, Stuttgart 2016; Terry Gander, Enzyklopädie deutscher Waffen 1939-1945. Handwaffen, Artillerie, Beutewaffen, Sonderwaffen, Stuttgart 2006; Alex Buchner, Deutsche und alliierte Heereswaffen 1939-1945. Deutschland, UdSSR, England, USA, Friedberg 1992. [19] Mike Croll, The History of Landmines, Barnsley 1998, 44. [20] Thomas D. Parrish und Samuel Lyman Atwood Marshall, Encyclopedia of World War II, New York 1978, 234. [21] Tony Hall, D-Day: Operation Overlord, London und New York 1993, 50. [22] Friedrich Schulz, Dienstgruppe GCLO, GSO. Eine deutsche Nachkriegstrilogie, Bonn 1956, 48. [23] Max von Falkenberg, Hürtgenwald 44/45. Die Schlacht im Hürtgenwald, o.O. 2004, 202. [24] Dietmar Kunz, Kriegsschauplatz Sachsen 1945. Daten, Fakten, Hintergründe, Altenburg 1995, 20; Wolfgang Fleischer, Das Kriegsende in Sachsen 1945. Eine Dokumentation der Ereignisse in den letzten Wochen des Krieges, Friedberg 2004, 107. [25] Hans Kissel, Der Deutsche Volkssturm 1944/45. Eine territoriale Miliz im Rahmen der Landesverteidigung, Berlin-West und Frankfurt a.M. 1962, 38. [26] Joachim Fest, Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, Hamburg 2009, s.p. (e-Book). [27] Walter Henkels, Kohlen für den Staatsanwalt. Die sagenhafte Stunde Null, Düsseldorf und Wien 1969, 94. [28] Erich Maschke, Die deutschen Kriegsgefangenen im Gewahrsam Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs, Bielefeld 1962, 172. [29] Ernst Helmut Segschneider und Martin Westphal, Zeichen der Not. Als der Stahlhelm zum Kochtopf wurde, Detmold 1989, 109; Gifhorns Glashütte, 2010. [30] http://www.profilm.de/insel/mieten/Konversion2.php [Abruf 4. Oktober 2020]. [31] Arbeitshilfen, 2007, A-3.1, 67. [32] Burkhard Heinrich Stark, Weltkrieg vom Hörensagen, Norderstedt 2020, 151-152. [33] Eva-Maria Altena und Simon Mewes, Zum Umgang mit den Westwallanlagen, Mainz 2014, 22; Thomas Enke, Landminen und Munition in Krisengebieten. Sicherheitshandbuch für Einsatz- und Hilfskräfte, Regensburg und Berlin 2017, 89. [34] Anti-personnel Weapons, hg. v. Sipri, London 1978, 183. [35] Thomas Enke, Grundlagen der Waffen- und Munitionstechnik, Regensburg und Berlin 2020, 312-313.
Glasarbeiter um 1900 – ein Zugang zu ihnen ist schwer. Zu fern sind „wir“, schon allein durch unseren Wohlstand, unsere Bildung, unser Wissen um die Fülle der Welt. Glasarbeiter, wie die knapp zweihundert (fast durchweg) Männer in Boffzen in den beiden Glashütten Noelle & von Campe und der Georgshütte G. Becker, waren (aus unserer Sicht) arm, starben mit durchschnittlich unter 60 Jahren, waren und blieben zumeist Bestandteil ihrer Klasse, ihres vom Vater übernommenen Berufes. Sie nährten sich auskömmlich und eintönig, standen ihrer Familie vor, so wie die Unternehmer ihren Hütten. Ihre Familien waren größer als die unseren, alle Mitglieder hatten schon früh etwas beizusteuern, hatten mitzuarbeiten, nicht nur zu helfen. Die Glasarbeiter waren deutlich kleiner und körperlich schwächer als wir, genossen eine Volksschulausbildung, nicht mehr. Ihr Leben konzentrierte sich auf relativ wenige Menschen, ihre Familie und Nachbarn, Handwerker und Kleinhändler des Ortes und der näheren Umgebung. Und da war die Arbeit, die Hütte. Angesichts deutlich längerer Arbeitszeiten als heutzutage bildete sie nicht allein zeitlich den Mittelpunkt ihres Lebens. Mit den Kollegen war man vertraut, auf sie musste man sich verlassen, konnte dies häufig auch. Gemeinsam hatte man Berufsehre, Stolz auf das eigene Können, Stolz auf die marktgängigen Gläser eigenen Schaffens. Die Hütten bildeten eigene kleine Welten, griffen aber über deren Mauern hinaus, denn man hatte auch eigene, von Glasarbeitern dominierte Vereine, grenzte sich durchaus von denen im Boffzener Unterdorf ab, denen, die meist in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren, in der noch existierenden Welt kleiner Handwerker- und Händlerexistenzen. Verlorene Welten, so könnte man meinen. Wenn da nicht ein Glänzen in den Augen vieler älterer Boffzener wäre, ein schalkhaftes Blinzeln, wenn man hört und redet von den Geschichten dieser Zeit, den Fährnissen des damaligen Alltags, dessen Listen und Fluchten.
Stilisierte Darstellung der Glas- und Porzellanfabrikation (Sprechsaal 47, 1914, 1)
Doch gemach! Wie lebte ein Glasarbeiter um 1900 ist keine Frage, die sich in Anekdoten auflösen sollte. Sie haben ihren Platz, waren Teil des Lebens, nicht nur des vergangenen. Doch eine Antwort zu geben bedarf mehr. Sie erfordert einen Blick auf viele „harte“ Fakten, die – wenn wir es recht bedenken – auch unser aller Leben bestimmen: Einkommen und Besitz, die Arbeit in all ihren Facetten und Unterschieden, die Gesundheit und die vielen Gebrechen. Vieles davon ist definitiv vergangen, haben die Glasarbeiter doch nur in Ausnahmen persönliche Zeugnisse hinterlassen, waren sie im besten (Überlieferungs-)Fall Objekte der höheren Herren in Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft – und deren schriftlicher Überlieferung. Antworten auf unsere Frage, wie lebte ein Glasarbeiter um 1900, werden wir in drei Schritten geben: Erstens mit Bezug auf das materielle Leben einzelner Glasarbeiter aus Boffzen, zweitens im Blick auf die Situation der Boffzener Hütten und der Glasindustrie dieser Zeit, drittens schließlich fokussiert auf die damaligen gesundheitlichen Härten der Glasarbeit.
Das Leben zweier Glasarbeiter im Spiegel ihrer Inventare
Auch um 1900 wurde um Arbeit und Reichtum, um Lebenszuschnitte und Lebenschancen beherzt gestritten. Es ging um elementare Dinge, um Hunger und Not, um Würde und Menschenrecht: „Man preist wohl immer die Erzeugnisse, die auf den Weltmarkt gelangen, und redet von der Geschicklichkeit des Arbeiters, spricht aber niemals von dem Hunger, den der Arbeiter bei der Herstellung derselben oft im Magen spürt, und von dem Stück Brot, das der Arbeiter mit schmierigen und bestaubten Fingern während der Arbeit in der Hast samt den abgeschliffenen Glas- und Steinteilchen verzehrt, und von den Tausenden Bakterien und dem Schleim, die die kranke Brust des Arbeiters während der Arbeit auf diese Gegenstände hustet. Und wenn er am Mittag zu Hause kommt, dann gibt es einige Kartoffeln, mit mehr oder weniger schlechter Butter zugerichtet, und wer sich dazu eine sehr fragwürdige Blut- oder Leberwurst für zehn Heller leisten kann, der ist glücklich zu preisen. Das Morgen- und Abendessen besteht fast immer aus Kaffee und Brot oder Semmeln. Fleisch gibt es nicht alle Sonntage; damit ist gewöhnlich die Speisekarte des Glasarbeiters erschöpft.“ [1] Derartige Sozialreportagen geben ein nur oberflächliches Bild der Lage der Glasarbeiter um 1900. Sie sind Teil der sozial- und wirtschaftspolitischen Debatten dieser Zeit, geprägt von einer aufstrebenden Gewerkschaftsbewegung und vom erstmaligen Ausbruch aus der materiellen Enge aufgrund wachsender Reallöhne während der Hochindustrialisierung.
In Boffzen fehlen solche Reportagen. Doch zwei andere Quellen vermitteln einen ersten Eindruck. Es handelt sich um gerichtlich festgestellte Inventare. Inventare sind Zusammenstellungen des Besitzes und der Schulden zu einem bestimmten Zeitpunkt – wir kennen dies noch aus der regelmäßigen Inventur von Unternehmen oder aber in Erbschaftsfällen. Hier aber wurden sie nach dem Tode zweier Glasarbeiter erstellt, um auf deren Grundlage über die Vormundschaft ihrer Kinder zu entscheiden. Sie geben einen Einblick in deren materielle Lage im Augenblick ihres Todes.
Im ersten Fall von 1899 haben wir nur rudimentäre Informationen. [2] Es ging um die Hinterlassenschaften des bei Noelle & von Campe beschäftigten Glasschleifers Friedrich Kasten und das Schicksal seiner vier Kinder: Aus erster Ehe waren das Frieda (geb. 15. Mai 1887) und Friedrich (18. November 1889), aus zweiter Minna (22. Februar 1894) und Auguste (25. Januar 1897). Vor Gericht erschienen seine Witwe und zwei Familienfreunde, nämlich die Glasmacher Julius und August Kaiser aus Boffzen. Vielleicht noch wichtiger war der Vormund. Es handelte sich um den Geschäftsführer und Gesellschafter der Glashütte, Max Eugen Noelle. Er wurde seiner (imaginären) Pflicht als patriarchalischer Arbeitgeber gerecht, übernahm er doch die Vormundschaft für alle vier Kinder, tilgte zudem die aufgelaufenen Schulden. Für ihn gewiss auch Ausdruck seines gelebten Protestantismus.
Bilanz nach dem Tode des Glasschleifer Friedrich Kasten 1899 (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 40 Neu 10 Fb. 5 Nr. 70)
Was stand nun am Ende des Lebens von Friedrich Kasten zur Bilanz? Grundstücke besaß er nicht, seine Habe betrug 159,70 M. Bargeld war nicht vorhanden. Den Hauptteil seines Vermögens machten mit 78,20 M seine Möbel aus, hinzu kamen 14,40 M für Betten und Decken sowie 8,10 M für Haus- und Küchengeräte. Seine Kleidung war 18 M wert, zudem hatte er für 29 M Lebensmittelvorräte aufzuweisen – so der Stand vom 20. Januar 1899. Der sechsköpfige Haushalt besaß also praktisch keine Rücklagen. Schlimmer noch: Das Inventar wies Schulden in Höhe von 293 M auf. Nach Verkauf der gesamten Habe hätten Kastens Frau und Kinder weiterhin ein Defizit von 133,30 M abzutragen gehabt. Der Glasschleifer lebte also von der Hand in den Mund, er war überschuldet, angewiesen auf Kleinkredite vor Ort.
Die Kleider des Glasmachers Heinrich Kleine – Auszug aus dem Inventar 1895 (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 40 Neu 10 Fb. 5 Nr. 68)
Das zweite Inventar von Anfang 1895 gibt Zeugnis von einem besser gestellten Haushalt. [3] Es war der des Glasmachers Heinrich Kleine, wohnhaft Glashütte Georgshütte, verstorben am 17. Dezember 1894 in Boffzen. Abermals ging es um die Vormundschaft für vier minderjährige Kinder, nämlich Karl (geb. 3. Januar 1877), Hermine (16. Februar 1878), Sophie (18. Mai 1879) und Marie (5. April 1890), zudem um die Zukunft der Witwe Johanna Kleine, geb. Öbel. Vor Gericht anwesend waren wiederum zwei Boffzener Familienfreunde, nämlich der Bäckermeister Ludwig Kleine und der Glasschleifer Karl Brodhage.
Das Inventar wies abermals keinen Grundstücksbesitz aus, doch war der Viehbestand mit 26 M höher bewertet als bei Kasten, niedriger dagegen der Wert seiner Möbel (11 M). Betten und Decken (16 M) sowie Haus- und Küchengeräte (14 M) lagen leicht höher, doch bei drei Posten zeigten sich die Unterschiede zwischen einem auskömmlichen Dasein und der Subsistenzwirtschaft Kastens: Kleines Kleidung (50,60 M) und die Lebensmittelvorräte (119,50 M) waren deutlich mehr wert. Entscheidend aber war die Rubrik „Baares Geld“: Kleine besaß ein kleines Vermögen von 1500 M, genauer einen Hypothekenbrief des Holzmindener Nagelschmieds August Göhmann vom 20. Dezember 1876. Auf der Habenseite standen also 1737,10 M. Die Schulden von 178,87 M wogen demgegenüber eher gering, blieb doch ein positiver Saldo von 1558,23 M übrig.
Ein kleines Häuschen mit Gartenfläche: Grundrisse des 1874 von G. Becker erbauten Arbeiterwohnhauses für den damaligen Leinweber Heinrich Kleine (Kreisarchiv Holzminden Bauakten Boffzen)
Im Gegensatz zum ersten Inventar wurden die Angaben bei Kleine weiter ausdifferenziert. Der Haushalt hielt Schweine und Ziegen, besaß zudem die dafür erforderlichen Schlachtutensilien, also unter anderem Axt und Handsäge, ein Rosteisen, einen Schlachttisch sowie ein einschlägiges Wasserbecken. Bei Kleine wurde hausgeschlachtet, der Ertrag dann geräuchert und peu à peu verzehrt. Wichtigster Posten der Vorräte waren etwa 200 Pfund Schinken, Wurst und Speck, dazu ca. 10 Zentner Kartoffeln. Das war auskömmlich, keine Not. Heu, Stroh und Holz waren vorhanden, denn das Vieh musste, soweit nicht zuvor geschlachtet, über den Winter gebracht werden – schon der Milch wegen. Blicken wir nun auf die Kleidung: Für die Arbeit standen vier Arbeitshemden und zwei Arbeitsanzüge zur Verfügung, so dass regelmäßig gewechselt werden konnte. Für die freie Zeit – regelmäßige Freizeit im heutigen Sinne dürfte es kaum gegeben haben – besaß Kleine ebenfalls vier Leinenhemden, zwei Anzüge, einen Überzieher für den Winter. Zudem aber hinterließ er eine Taschenuhr mit Kette, Wert 8 Mark. Das war, zusammen mit dem schwarzen Tuchanzug, ein Zeichen von Respektabilität.
Auch die Schulden sagen etwas über den Alltag aus. Besorgungen und Käufe erfolgten meist nicht gegen bar, sondern gegen Kredit. Aufgelistet waren ein Schuhmacher, Schneider und Schneiderin, ein Maler und ein Tischler. Die Kleidung wurde also zu zumindest beträchtlichen Teilen nicht im Haushalt hergestellt, sondern gekauft. Ähnliches galt für die Ausstattung der Wohnung, einer Arbeiterwohnung der Glashütte. Lebensmittel wurden zwar selbst produziert, Ergänzungen aber zugekauft. Schulden gab es zudem bei einem Kaufmann, einem Müller sowie einem Kleinköter – letztere wohl für den Kauf von Mehl bzw. landwirtschaftlicher Produkte. Die Liste der Schuldner verweist auf einen begrenzten regionalen Aktionsradius: Vier kamen aus Boffzen, drei aus dem benachbarten Höxter und einer aus der Kreishauptstadt Holzminden. Schließlich enthielt die Liste noch den Glashüttenbesitzer Becker aus Neuhaus. Der Kleinkredit von 18 M kann ein Vorschuss gewesen sein, Hilfe zur Überbrückung von Zahlungsschwierigkeiten. Er stand aber auch für das patriarchale Verhältnis zwischen Facharbeiter und Unternehmer.
Aus dem Besitz der Witwe Johanna Kleine 1895 (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 40 Neu 10 Fb. 5 Nr. 68)
Das Inventar Kleines enthält noch eine weitere Kategorie, nämlich „Eingebrachtes der Ehefrau“. So schwach auch die privatrechtliche Absicherung der Ehefrau im späten 19. Jahrhundert gewesen sein mag, so wurde sie doch durch tradierte Rechtsinstitute gemildert. Das galt für die Aussteuer, also die von der Ehefrau in die Ehegemeinschaft eingebrachten Güter. Formaljuristisch im Besitz des Mannes wurde sie jedoch als Besitzstand der Witwe akzeptiert. Das Inventar listete nicht weniger als 33 Posten auf, vom Sofa mit Damastüberzug bis hin zur Mistgabel. Es handelte sich erst einmal um Möbel, dem besagten Sofa, einem Sofatisch, einem kleinen Tisch, einer Kommode und einem Korbsessel. Das war die Ausstattung der vielbeschworenen guten Stube, die repräsentativen Zwecken diente, etwa bei Besuch. Gelebt wurde aber – schon aus Gründen der Heizung – in der Küche. Zwei Rohrstühle, vier Brettstühle enthielt das Inventar, Plätze für das Ehepaar und seine vier Kinder. Auch das Interieur der Schlafräume gehörte Johanna Kleine, je zwei Ober- und Unterbetten, sechs Kissen, Kissenüberzüge und Bettlaken, zudem sieben Bettüberzüge. Etwas für jeden, doch nicht viel zum Wechseln. Es gab Tischlaken und eine Reihe von Handtüchern. Besteck und Geschirr waren dagegen recht eng bemessen, standen doch nur sechs Messer, Gabeln und Löffel zu Buche, ein Porzellanteller und ein Vorlagelöffel, ferner eine Kaffeemühle. Zum Kochen dienten zwei emaillierte und mehrere irdene Töpfe aus Steingut. Sollten Sie Elektrogeräte vermissen – es gab in Boffzen damals keine allgemeine Elektrizitätsversorgung. Auch fließendes Wasser, gar warmes, fehlte. Schließlich enthielt die Liste Gartengeräte, Schuten, Harken und die besagte Mistgabel. Dieser Besitz markierte den Haushalt, zu dem auch der Garten und die Kleinviehzucht zählten. All das sollte nicht als Ausdruck der Fron der Hausarbeit missverstanden werden. Johanna Kleine dürfte außerhäuslich nicht gearbeitet haben, denn ihr Mann verdiente genug. Die züchtige Hausfrau war Statussymbol, Ausdruck von Ehrsamkeit und einer respektablen Stellung im Dorfe.
Beide Inventare unterstreichen die prekäre materielle Situation der Glasarbeiter in Boffzen. Obwohl sie sich gegenüber der bäuerlichen und kleinbäuerlichen Bevölkerung des Unterdorfes durch mehr oder minder stete Bezahlung hervorhoben, also regelmäßig, wenn auch wenig, Bargeld hatten, so war der materielle Spielraum doch äußerst begrenzt. Die Familien waren immer auch Wirtschaftseinheiten, Kartoffelanbau und Kleinviehhaltung Aufgaben der Ehefrau und der Kinder. [4] Zugleich macht der Vergleich beider Inventare deutlich, dass die Unterschiede innerhalb der Glasarbeiterschaft recht beträchtlich waren. Das war nicht nur Ausdruck individueller Tüchtigkeit, sondern Folge deutlicher Unterschiede zwischen den einzelnen Tätigkeiten innerhalb der Glashütten. Glasmacher resp. Glasbläser waren auskömmlich bezahlte Facharbeiter, deren Löhne deutlich über dem eines Glasschleifers oder der nicht kleinen Zahl von Zuarbeitern lagen. Ihr Lebenszuschnitt war gehobener, der deutlich höhere Fleischkonsum dafür ein verlässlicher Marker. [5] Vergessen werden sollte aber nicht, dass Facharbeiter anderer Branchen, insbesondere in Städten lebende Metallarbeiter, deutlich höhere Löhne erzielten.
Arbeit und Entlohnung in den Glashütten
Weiten wir nun erst einmal unseren Blick auf die Grundlagen der Existenz der Arbeiter, auf die damalige Glasindustrie. Sie hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts tiefgreifend verändert, war Teil des angebrochenen Maschinenzeitalters geworden. In Boffzen arbeiteten die Vorgänger von Noelle & von Campe zuerst mit sog. Boetius-Maschinen. Diese standen für den Wandel von der direkten zur indirekten Feuerung. Gegenüber den seit Anfang des 19. Jahrhunderts genutzten Öfen mit ersten Rosten steigerten sie die Temperatur durch die Einspeisung von Luft zur Flamme und erreichten damit eine Ersparnis von etwa 30% Brennmaterial. [6] Deutlich effizienter (und teurer) war dann der Siemenssche Regenerativofen. Entwickelt in den späten 1850er Jahren, wurde er seit 1864 erst in der Stahl-, dann in der Glasindustrie eingesetzt, war anschließend auch Trendsetter für erste Krematorien sowie dem Verbrennen von Tieren. Das Brennmaterial wurde in Generatoren verbrannt, das entstehende Gas dann in den eigentlichen Ofen gelenkt, wo es unter Luftzufuhr verbrannte. Es wurde dann durch Kammern aus feuerfestem Stein, den Regeneratoren, geleitet, um so den Schmelzprozess des Glasgemenges in Gang zu setzen und zu halten. Diese neuen Ofen-Maschinen erforderten nicht wenig Kapital, zugleich aber den Ersatz von Holz durch Kohle. Der Holzreichtum des Sollings verlor dadurch an Bedeutung, die Verkehrsanbindung an den Ruhrbergbau mittels Eisenbahn wurde für die Standortwahl der Boffzener Hütten entscheidend. Die Betriebe wurden dadurch größer, die Absatzmöglichkeiten erweiterten sich, zugleich aber veränderte sich das Arbeitsumfeld der Glasproduktion massiv.
All dies führte zu einer wachsenden Spezialisierung innerhalb der Glasindustrie. Sie teilte sich in zwei große Gruppen, nämlich einerseits den Glashüttenbetrieb, also die Produktion von Glas als solchem, anderseits dessen Weiterverarbeitung. In Boffzen war dies integriert, die dortigen Hütten machten beides. Die allgemeine Spezialisierung vertiefte zugleich die Unterschiede zwischen Handwerk und Industrie: „So trägt denn auch die ganze Glasindustrie teils den Charakter des Kunstgewerbes, teils den einer für den Massenkonsum arbeitenden Industrie.“ [7] In Zahlen der Reichsgewerbezählung: 1895 waren mit der Verfertigung von Glas und Glaswaren 2928 Hauptbetriebe mit 59.415 Beschäftigten befasst. Davon entfielen auf den Glashüttenbetrieb 371 Hauptbetriebe mit 40.938 Beschäftigten. Etwa die Hälfte der Produktion entfiel auf Grünglas. Anderes Hohlglas, insbesondere das in Boffzen produzierte Weißhohlglas, machte den zweiten großen Posten aus. All dies bedeutete für die Arbeiter eine zunehmende Aufgliederung der Tätigkeiten innerhalb der Hütte, auch eine Abhängigkeit von der Expertise von Technikern und Ingenieuren. Zugleich aber begann eine zuvor kaum gekannte Abhängigkeit von einem Markt, in dem Glas ein anonymes Massengut war, bei dem der Preis entscheidend wurde.
Volle Konkurrenz: Glaswaren als anonyme Produkte 1894 (Berliner Tageblatt 1894, Nr. 159 v. 30. März , 14)
Blicken wir nun genauer hin: Die Zeit zwischen den Wirtschaftskrisen 1893 und 1900/01 war im Deutschen Reich eine Periode relativ steten Wachstums und weit überdurchschnittlicher Wachstumsraten für die Glasindustrie. Deutliche Lohnsteigerungen gab es damals etwa im benachbarten Grünenplan und Freden. Davon profitierten insbesondere weniger qualifizierte Beschäftigte. [8]
In Boffzen gab es in der Georgshütte eine ähnliche Entwicklung – auch wenn eine genauere Auswertung der im Samtgemeindearchiv vorliegenden Lohnbücher noch aussteht. Der 1894 verstorbene Glasmacher Heinrich Kleine hatte 1891 als „Fertigmacher“ ein Jahreseinkommen von 1266,31 M, 1892 betrug es 1297,27 M. [9] Er arbeitete im Wochenlohn, die Zahlungen erfolgten zweiwöchentlich. Er scheint durchgängig beschäftigt gewesen zu sein. Die Miete für die Hüttenwohnung betrug 1891 36 M, die Summe wurde vom Lohn gleich einbehalten. Ein Vergleich mit Löhnen anderer Fertigmacher der Georgshütte macht zweierlei deutlich: Zum einen wurden die Löhne offenbar individuell vereinbart, denn sie variierten deutlich. Tarifverträge gab es in der Georgshütte noch nicht. Zum anderen stiegen die Einkommen insgesamt, doch sie stiegen nicht bei jedem Einzelnen:
Einkommen ausgesuchter Fertigmacher der Georgshütte 1893 und 1894 (M) [10]
Name
1893
1894
Einkommen
Holz und Miete
Einkommen
F. Dermann
1450,94
66,55
1620,65
A. Kleine
1319,00
79,25
1278,69
A. Tofaute
1466,95
55,75
1651,82
G. Bücking
1518,96
63,60
1857,57
Die Fertigmacher standen an der Spitze der Arbeiterhierarchie innerhalb des Betriebes. Sie erhielten Werkstücke oder aber Pressglas von den Vorbläsern, sorgten dann für ein vorzeigbares Werkstück. Die damit verbundene Kontrollaufgabe war in der Tat Geld wert, denn die Einkommen der Vorbläser lagen um etwa ein Drittel niedriger als die der Fertigmacher. Außerdem variierte deren Einkommen stärker, wies von 1893 auf 1894 zumeist auch Einbußen auf. Die Lohnzahlung erfolgte im Stücklohn, war entsprechend konjunkturabhängiger.
Einkommen ausgesuchter Vorbläser der Georgshütte 1893 und 1894 (M) [11]
Name
1893
1894
Einkommen
Holz und Miete
Einkommen
W. Tofaute
1050,93
40,75
1100,11
Ferd. Koch
1010,37
55,75
788,94
H. Kempe
1166,72
55,75
1089,70
C. Knop
925,50
22,75
831,70
Die Angaben verdeutlichen eine beträchtliche Lohnspreizung innerhalb der Glasarbeiterschaft. In der Boffzener Georgshütte gab es für die Zahlungen der Krankenversicherungsabgaben vier grobe Lohnkategorien, die allerdings – wie die Beispiele der Fertigmacher und Vorbläser unterstreichen –unterschiedliche Einkommenshöhen umfassten. Die Fertigmacher bildeten gemeinsam mit dem Verwalter die Lohngruppe I, während die Vorbläser in Gruppe II eingruppiert waren. Diese teilten sie mit Formmachern, Schürern und Holzschneidern. Die Ballotmacher der Gruppe III erhielten nochmals weniger, ehe mit den Einträgern die unterste Einkommensgruppe erreicht war. [12] Die Glasarbeiter waren also eine in sich hochdifferenzierte Gruppe, innerhalb derer es durchaus sozialen Aufstieg geben konnte. Der in der Tabelle noch 1894 als Vorbläser aufgelistete Ferdinand Koch war seit 1898 Fertigmacher und erzielte damals ein Jahreseinkommen von 1438,27 M. [13]
Ähnliche Beschäftigungsstrukturen gab es auch in der benachbarten Glashütte Noelle & von Campe. Auch dort hatte man auf das tradierte Zwischenmeistersystem verzichtet, hatte stattdessen Arbeitseinheiten um einzelne Stühle des Wannenofens herum organisiert. Diesen gehörten zumeist fünf Männer an, Fertigmacher, Vorbläser, Ballotmacher, Formhalter und Einträger. Ihre Löhne waren deutlich abgestuft, stiegen jedoch mit der Betriebsangehörigkeit. Innerhalb der Stuhl-Organisation war sozialer Aufstieg vom Einträger bis hin zum Fertigmacher grundsätzlich möglich – und entsprechend eine Vervielfachung des Einkommens. [14]
Was sagen diese Einkommen uns nun über die materielle Lage der Glasarbeiter um 1900? In Boffzen lagen die Löhne offenbar leicht über den Vergleichseinkommen in der deutlichen größeren Glashütte Grünenplan. Dort erzielte 1895 der Hüttenmeister 2378 M, die Tafelglasmacher durchschnittlich 1844 M, die Schleifer 618 M und die Tagelöhner lediglich 342 M pro Jahr. [15] Die Boffzener Hütten waren demgegenüber homogener, allen Lohnunterschieden zum Trotz. Vergleicht man mit anderen Branchen, so gilt das Resultat einer Ende der 1880er Jahre erschienenen Fallstudie aus Schlesien: „Die materiellen, geistigen und socialen Verhältnisse der in diesem Industriezweige beschäftigten Arbeiter sind durchschnittlich günstiger und zufriedenstellender als in vielen Gegenden des Vaterlandes und in den meisten anderen Industriezweigen.“ [16] Blickt man etwa auf die Bergleute im Ruhrgebiet, hinsichtlich Traditionsbewusstsein und Firmenloyalität mit den Glasarbeitern durchaus vergleichbar, so erzielten diese um 1890 Jahreslöhne von 900-1100 M, um 1900 von 1000-1300 M. [17] Will man all dies zu einem noch genaueren Abbild der Lebenshaltung um 1900 verdichten, so benötigte man allerdings präzise Preise, wie sie aus Boffzen nach meinem Wissen nicht vorliegen. Festzuhalten ist, dass die wachsende Produktivität der Hütten nicht nur zu einer Verbilligung und damit allgemeinen Verbreitung von Glaswaren führte, sondern dass der wachsende Wettbewerb im Handel zugleich einen Preisdruck schuf, der Lohnsteigerungen nur dann erlaubte, wenn die Produktion weiterhin überdurchschnittlich stieg. Billige Waren hatten ihren Preis.
Preisdruck durch Sonderangebote: Ausnahmetage im Berliner Warenhaus Wertheim 1895 (Volks-Zeitung 1895, Nr. 461 v. 2. Oktober, 7)
Diese Marktveränderungen wurden von den meisten Glasarbeitern jedoch kaum wahrgenommen – zumindest abseits der großen Flaschen- und Pressglasfabriken. Insbesondere die Glasmacher waren nicht nur relativ gut bezahlt, sondern standen noch in einer Handwerkstradition, verstanden sich nicht als einfache Arbeiter, gar als Proletarier. [18] Ihre Tätigkeit schien ihnen trotz der Maschinisierung und trotz wachsender Betriebsgrößen als produktiv und auch kreativ. Die sozialen Leistungen der Glashütten, also Arbeiterwohnungen, eine kleine Parzelle für Kartoffelanbau und Kleinvieh, sie waren Anrecht, nicht Lohnergänzungsleistungen. Die Fertigmacher standen nicht nur für sich, sondern für ihre Kinder. Sie verstanden es als Privileg, dass sie ihre Söhne schon früh in die Glasarbeit einführen konnten, denn sie waren Teil eines Berufsstandes, nicht einer imaginären Arbeiterklasse. Ihre Interessen deckten sich dabei mit denen der Hüttenbesitzer, die auf eine sesshafte und qualifizierte Stammarbeiterschaft setzten. Die Ortsverbundenheit der Glasmacher war aber zugleich eine Konsequenz der allgemeinen Veränderungen der Glasproduktion. Die alten, bis die 1870er geltenden Hierarchien innerhalb der Glasindustrie hatten sich durch die Maschinisierung und auch die Verwissenschaftlichung der Glasindustrie deutlich verändert. Techniker, Ingenieure, Verwaltungs- und Vertriebspersonal gewannen an Bedeutung, setzten neue Kompetenzen an die Stelle der Produkt- und Produktionskenntnisse der Glasmacher. Seit den 1890er Jahren entwickelte sich daher eine erst in den 1950er Jahren sich auflösende Gemeinschaft von Glasarbeitern, die man nicht zur Betriebsfamilie idealisieren sollte.
Stilisierte Darstellung der Georgshütte mit Arbeiterwohnungen (Schreiben von G. Becker an die Kreisdirektion Holzminden v. 13. September 1901, Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)
Diese Deutung verbietet sich nicht allein aus ihrer Zweckentfremdung durch Agrarromantizismus, Nationalsozialismus und formierter Gesellschaft. Sie degradiert zudem Frauen als Anhängsel, als treusorgende Hausfrauen, zuständig für die Kinder, die Tiere und den kleinen Garten. Glasarbeit war um 1900 allerdings vorwiegend Männerarbeit. Das war vor der Maschinisierung teils anders, denn Glasmalerei und Vergoldung waren vornehmlich weibliche Tätigkeiten. Nun aber erschienen Frauen in den Hütten kaum mehr; und wenn, dann als Poliermädchen, in der Verpackung, selten in der Verwaltung. Diese Entwicklung war auch Folge staatlicher Interventionen, denn der als kultureller Fortschritt gedeutete besondere Schutz von Kindern und Frauen hatte immer auch eine Verbotsseite.
Die männlich geprägte Hütte war ein Arbeitsplatz relativ junger Menschen, deren Alter ihren Platz in der Lohn- und Tätigkeitshierarchie stark mitbestimmte. In der Georgshütte waren 1900 die Fertigmacher 38 bis 48 Jahre alt, die Vorbläser 38 bis 24, die Ballotmacher 29 bis 19 und die Einträger 16 bis 19 Jahre. [19] Verwalter Strecker war mit 58 Jahren der älteste Beschäftigte. Die Altersstruktur spiegelt zugleich ein Ausbildungssystem, in dem die Arbeiter auch nach der Lehrzeit unterschiedliche Tätigkeiten durchliefen und sich so qualifizierten. Die Unternehmen unterstützten dieses Lernen in der Hütte durch entsprechend steigende Löhne. Das war ungewöhnlich, weil die Mehrzahl der damaligen deutschen Arbeiter ihre höchsten Löhne Ende 20, Anfang 30 erzielten – und ältere Arbeiter abnehmend weniger verdienten.
Die Hütten waren nicht nur Orte des Erwerbs. Sie waren lebensbestimmend, denn hier verbrachten die Glasarbeiter auch einen Großteil ihres Lebens. Insgesamt hatten die Arbeitszeiten im Vergleich zu den 1860er Jahren deutlich abgenommen, nämlich von täglich 11 bis 12 Stunden auf eine zehnstündige Arbeit im Schichtbetrieb. [20] Nur der Sonntag war frei, wenngleich nicht immer und für alle. Die neuen Öfen banden die Arbeiter an sich, erforderten Arbeit, bis das Gemenge verarbeitet war. Je nach Glasart, je nach Produkt, bedeutete dies unterschiedlich lange Arbeitszeiten – und damit regelmäßige Überschreitungen der vorgesehenen Stunden. Die Öfen führten zugleich zu einer Ausdifferenzierung der Arbeitszeiten innerhalb der Belegschaften. Die Schleifer mussten sich auf die Glasmacher einstellen, waren von deren Vorarbeiten abhängig. Die Einschürer hatten den kontinuierlichen Betrieb des Ofens sicherzustellen, entsprechend wurden Nachtschichten üblich – und auch der Sonntag wurde nicht geheiligt. Zu stark wechselnde Temperaturen hätten zu teuren Sprüngen und Rissen an den Öfen geführt bis hin zum temporären Stillstand des Betriebes.
Schichtbetrieb und Sonntagsarbeit bei Noelle & von Campe (Arbeits-Ordnung der Glasfabrik Noelle & von Campe zu Brückfeld v. 19. April 1892, Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, 139 Neu Nr. 286)
Arbeit war auch deshalb so zentral, weil die offizielle Arbeitslosigkeit sehr niedrig war. 1895 waren in den Glashütten im Deutschen Reich 34.445 Arbeitnehmer beschäftigt (zur Glasindustrie zählten ansonsten noch Glasveredelung und Glasbläserei vor der Lampe (10.138), Spiegelglas- und Spiegelfabrikation (6.208) sowie die Spielwarenproduktion (1.438)). Arbeitslos waren davon am 14. Juni 1895 283 (0,82%) und am 2. Dezember 1895 287 (0,84%). [21] Die schon bei Vorbläsern regelmäßig variierenden Löhne verweisen aber auf eine zyklische Unterbeschäftigung. Nachfrageschwankungen und Absatzprobleme wurden ebenso wie der Umbau der Wannenöfen auf dem Rücken der Arbeiterschaft abgepuffert. Für Glasarbeiter bedeutete dies zeitweilige Arbeit als Waldarbeiter oder aber Mithilfe bei der Ausbesserung und Neugestaltung der Öfen.
All dies wurde, möglicherweise grimmig, akzeptiert. Obwohl erst zahlreiche, dann die Mehrzahl der Glasarbeiter sozialdemokratisch wählten, blieben die Boffzener Hütten lange Zeit gewerkschaftsfreie Zonen, gab es dort auch keinen einvernehmlichen Tarifvertrag. Das überrascht, denn Delegierte aus Brückfeld waren beim „Ersten Kongreß der Glasarbeiter Deutschland“ vom 19.-21. September 1875 in Dresden dabei, als der „Allgemeine Glaskünstler-Bund Deutschlands“ gegründet wurde. Obwohl die organisierten Glasfabrikanten eine Mitgliedschaft untersagten, traten Brückfelder Glasarbeiter dennoch bei. [22] 1878 löste sich der umbenannte „Bund der Glasarbeiter Deutschlands“ aufgrund der Sozialistengesetze selber auf – und es fehlen entsprechende Nachrichten aus Boffzen über Mitarbeit im 1890 gegründeten Verband der Glasarbeiter Deutschlands, der sozialdemokratischen Branchengewerkschaft. Der Trend zum Großbetrieb – sie beschäftigten 1907 knapp 80% aller Erwerbstätigen [23] – führte im Kaiserreich jedenfalls zur Verhärtung der Fronten zwischen Kapital und Arbeit. Nach dem trotz reichsweiter Solidaritätssammlungen gescheiterten Streik beim Flaschenproduzenten H. Heye in Schaumburg und Nienburg im Sommer 1901, an dessen Ende mehrere hundert Glasmacher nach Belgien auswandern mussten, erhöhte sich der Organisationsgrad zwar auf etwa ein Fünftel, doch die Glasarbeiter Boffzens setzten eher auf persönliche Arrangements mit den lokalen Unternehmern. [24]
Gesundheitliche Probleme der Glasarbeit
Kurze Krankheit, rascher Tod: Auflistung von Kranken- und Sterbegeld für Heinrich Kleine 1894 (Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Krankenkassenbuch Becker 1893-1913, 34)
Der Fertigmacher Heinrich Kleine starb im Dezember 1894 unerwartet, Krankengeld erhielt er nur drei Tage. Die Todesursache ist unbekannt, eine Infektionskrankheit oder aber ein Unfall anzunehmen. Das aus heutiger Sicht geringe Alter der Belegschaft der Georgshütte erscheint vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht. Daten der Habsburger Monarchie sind auf das Deutsche Reich übertragbar: „Das mittlere Sterbealter aller Glasmacher beträgt 38 Jahre, doch sind viele Arbeiter gezwungen, in relativ jungen Jahren ihren Beruf aufzugeben, weil sie seinen physischen Anforderungen nicht gewachsen sind.“ [25] Die Mehrzahl der Glasarbeiter starb früh, wurde nur 50 bis 60 Jahre alt. Ihre Lebenserwartung lag damit unter dem Reichsdurchschnitt von etwa 60 Jahren, doch sie lag nicht am Ende der Skala der gesundheitsgefährdenden Berufe. Die zahlreichen mit der Glasarbeit verbundenen Krankheiten erforderten ärztliche Maßnahmen, waren aber in der Regel nicht tödlich. Viele Glasarbeiter schieden teils in frühen Jahren aus den Hütten aus, gesundheitlich gezeichnet, körperlich unfähig für die harte und fordernde Arbeit.
Über diesen zentralen Teils des Lebens der Glasarbeiter informiert eine rasch wachsende Zahl medizinischer Untersuchungen. Der Aufbau rudimentärer Formen staatlicher Sozialversicherungen in den 1880er Jahren war nämlich begleitet vom Aufbau neuer Expertenkulturen: In den Berufsgenossenschaften tätige Mediziner, Professoren und Assistenten des neuen universitären Faches Gewerbehygiene, zunehmend spezialisierte Beamte der Gewerbeaufsicht, schließlich auch gewerkschaftlich geprägte Expertise. Sie einte ein Blick auf die empirische Sozialtatsachen und die Neugier auf die lange Zeit eher verschlossene, bestenfalls romantisierte Welt der Glasproduktion. Für Boffzen liegen keine speziellen Untersuchungen vor, erst spätere Gewerbeaufsichtsakten erlauben genauere Eindrücke. Doch das generelle Bild ist eindeutig: Das Leben der Glasarbeiter fand in einem gefährlichen und strukturell gesundheitsgefährdenden Umfeld statt.
Die Glasindustrie gehörte zu den „staubenden Gewerben“, die Hütten waren heiß und zugleich „nicht hell genug“ [26] – außer am Ofen selbst. Dies hatte Auswirkungen auf Körper und Erscheinung: „Das Aussehen der Glasbläser ist […] gewöhnlich ein blasses, ungesundes, fahles, zuweilen fast wachsartiges und der ganze Ausdruck ein müder und schlaffer. Betreiben sie den Beruf schon von Jugend auf, so findet man häufig schwach entwickelte Unterextremitäten, schwache Gelenke, welche dem Gewicht des Körpers nachgeben und später Deformitäten zeigen.“ [27] Ähnliche Eindrücke wie diese aus den frühen 1890er Jahren äußerten österreichisch-ungarische Gewerbemediziner kurz vor dem Ersten Weltkrieg: „Die Glasmacher sind häufiger blaß als gut gefärbt, größtenteils mager, einzelne werden aber ziemlich beleibt. Obschon die Glasmacher zufolge ihrer guten Einkünfte sich entsprechend ernähren, machen sie doch vielfach den Eindruck anämischer oder unterernährter Leute.“ [28]
Die Experten führten dies vorrangig auf das Arbeitsumfeld zurück, das sie plastisch beschrieben: „Der Glasbläser arbeitet an dem glühenden Schmelzofen, dessen ausserordentlich hohe Temperatur eine äusserst intensive Hitze verbreitet, mit fast entblösstem Körper, nur mit Beinkleidern und einer dünnen, baumwollenen Jacke bedeckt, die in der Regel noch offen getragen wird. Die Thüren der Hütte sind geöffnet und die Arbeiter dem wechselnden Luftzuge ausgesetzt. Durch die Hitze und angestrengte Thätigkeit ist der Körper wie in Schweiss gebadet; der Schweiss rinnt in grossen, dichten Tropfen über Gesicht, Arme und Brust, während der durch die Thür eindringende Luftstrom die dem Ofen abgewendete Seite des Körpers erheblich abkühlt. Zudem verdient auch der Umstand Beachtung, dass die für die Arbeiter bestimmten Aborte für dieselben fast niemals so bequem zu erreichen sind, dass sie nicht nötig haben, ins Freie hinauszutreten; in der Regel müssen sie 50 bis 60 Schritt und oft noch bei weitem mehr über den freien, zugigen Hof gehen, um zu denselben zu gelangen. Nur selten denkt der Arbeiter daran, vor dem Heraustreten aus dem heissen Arbeitsraume den Körper abzutrocknen und einen Rock anzuziehen; schweisstriefend und mit entblösster Brust setzt er sich dem Luftzuge aus, zumal ihm derselbe, wenn auch nur für kurze Zeit, das Gefühl einer angenehmen Kühlung verschafft.“ [29]
Wissenschaftlicher Blick auf Gesundheitsgefährdungen: Glasstaub unter der Mikroskop (In den gewerblichen Betrieben vorkommende Staubarten in Wort und Bild, hg. v. Verein zur Pflege des Gewerbehygienischen Museums in Wien, 2. verm. Aufl., Wien 1895)
Gesundheitsschädlich schien insbesondere der Glasstaub: „Ein äusserst feiner, spitziger, verletzender Staub jedoch entwickelt sich beim Abkratzen und Ebnen der abgesprengten Ränder von Cylindern und Hohlgläsern sowohl, wie beim Absprengen selber und beim Graviren mit dem Kupferrädchen, auch dann, wenn bei diesen Arbeiten Wasser verwendet wird, weil das äusserst spröde Material bei der schnellen Umdrehung der Räder leicht einen gewissen Grad von Trockenheit erreicht und der Schleifer sein Gesicht dem Arbeitsstück sehr nähern muss. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist auch die recht mangelhafte Reinigung vieler Schleiferwerkstätten, die häufig als Lagerraum für allerlei unnütze und verbrauchte, mit hohen Staubschichten bedeckte Gegenstände dienen.“ [30] Während die Hüttenansichten rauchende Schlote feierten, war der Rauch selbst gesundheitsgefährdend, ferner die Hitze, „welche, da die Glasschmelze die höchste Temperatur erfordert, die der Ofen zu leisten vermag, für jeden Anderen als den Glasarbeiter einfach unerträglich ist, die strahlende Hitze des Glases am Pfeifenende, das Blasen und die Anstrengung. Die Arbeiter sind in Schweiss gebadet, nur mit Hose und Hemd bekleidet, und die ausserordentlich zugige Hütte ist zuweilen so von Rauch erfüllt, dass man auf drei Schritte Niemand erkennen kann. Die Arbeit ist sehr ermüdend und anstrengend, besonders das Blasen.“ [31] Diese Eindrücke stehen für eine andere, eine arbeitsmedizinische Perspektive: Die Hütten waren Orte der Gesundheitsgefährdung, vor denen die Arbeiter möglichst geschützt werden mussten.
Der wissenschaftliche Blick zeigte seine Kraft jedoch weniger in allgemeinen Eindrücken von der Glasarbeit, sondern in einer zunehmend kausalen Verbindung von Arbeit, Umfeld und Krankheiten. Dazu diente nicht zuletzt die Statistik als eine Leitwissenschaft des späten 19. Jahrhunderts. Zusammengefasste Krankenkassenberichte ergaben für die 1880er Jahre, dass sich jährlich ungefähr ein Drittel der Arbeiter krank meldete. Dabei handelte es sich im Regelfall um schwerere Fälle, denn die Krankheitsdauer lag bei mehr als 14 Tagen. [32] Hitze, häufige Temperaturwechsel, Rauch und Staub führten zu einer Häufung bestimmter Krankheiten: Tuberkulose und Atemwegerkrankungen, Entzündungen der Hände, Rheumatismus und Verbrennungen. [33] Hinzu kam die durch die Weitergabe der Glaspfeife begünstige und breit diskutierte Syphilis – Salvarsan wurde erst 1910 marktreif – sowie Verdauungskrankheiten als Folge des unsteten Essens am Arbeitsplatz, vor allem aber der große Menge an kalten Getränken. All dies führte im späten 19. Jahrhundert zu einer wachsenden Zahl von Statistiken, deren beträchtliche Abweichungen eines deutlich machten: Die Gesundheitsgefährdungen betrafen die Glasarbeiter in sehr unterschiedlicher Weise. Erforderlich war daher eine genauere Risikoanalyse der einzelnen Tätigkeiten.
Langzeitstudien im deutschen Elsass hatten schon Anfang der 1890er Jahre eine unterschiedliche Mortalität im Glasgewerbe festgestellt. Das Durchschnittsalter der Gestorbenen lag dort bei 35,2 Jahre, doch bei den Schleifern betrug es 32,6 Jahre, den Glasbläsern 38 und den Übrigen 41. Nur 8,3% der Schleifer wurden älter als 50 Jahre, bei den Glasbläsern lag dieser Anteil bei 21,8%, erreichte bei Schmelzern und übrigen Arbeitern 19%. [34]
Glasbläser in Aktion: Erstellen einer Walze (R[udolph] Sachsse, Einführung in die Warenkunde, 2. Aufl., Bautzen 1909, 60)
Bei den Glasmachern – in Boffzen Fertigmachern – traten vor allem vier Risiken hervor: Erstens führte das Wechselspiel der Arbeit mit heißen Glaskörpern einerseits, kurzem Stehen oder Sitzen anderseits zu vielfältigen Erkältungskrankheiten, aber auch zu dem sog. „Glasmacher-Kopfschmerz“. [35] Zweitens erforderten Arbeit und Hitze einen steten Ersatz der ausgeschwitzten Körperflüssigkeit. Dabei kamen täglich nicht selten zehn Liter zusammen. Das zumeist getrunkene Wasser war häufig von minderwertiger Qualität und führte zu Magen- und Darmerkrankungen. Das ebenfalls konsumierte Bier – damals durchschnittlich leichter als in heutigen Pils-Zeiten – beförderte Blähungen und die üblichen Folgeerkrankungen regelmäßigen Alkoholkonsums. [36] Die eigentlichen Berufskrankheiten der Glasmacher hingen jedoch mit dem Glasblasen und der dabei verwandten Glaspfeife zusammen. Auf die damit verbundenen Infektionsgefahren durch diese zumeist mit einem Holzgriff versehene Metallröhre wurde schon hingewiesen, doch wichtiger waren drittens regelmäßige Entzündungen der Hand durch kleine, von der Pfeife, heißem Glas und der spröden Haut verursachten Risse. Dies führte in vielen Fällen zu verkrüppelten und kraftlosen Händen. Das Blasen mündete viertens einerseits in Probleme des Atembereichs, zog also Heiserkeit, Husten, Bronchialkatarrhe und Lungenentzündungen nach sich. Anderseits führte die stete Belastung von Lungen und Backen zu den charakteristischen „Trompetenbacken“: „Die beim Glasblasen erforderliche Macht und Gewalt der Exspiration erzeugt die für die Glasbläser charakteristischen mageren, fleischlosen, schlaffen Wangen, welche in Folge der dauernden Ueberanstrengung und der Muskelrarefaction nach und nach blasenartig aufgetrieben erscheinen.“ [37]
Typische Gesundheitsprobleme von Glasbläsern: Entzündungen der Hände („Hakenhand“) bzw. Verdickungen der Wangenmuskulatur („Trompeterbacken“) (Hauck, 1910, 354 (l.), 387)
Noch größeren Gefährdungen waren die Glasschleifer ausgesetzt: „Auf hohen hölzernen Stühlen sitzen die Arbeiter in einer langen Reihe; vor jedem dreht sich ein vertauschbares Rad aus Sandstein, Gußeisen oder Holz, über welches beständig ein feiner Wasser- oder Sandstrom herunterfließt. Während der Arbeiter mit entblößten Armen sich gegen die Holzpflöcke anstemmt, dreht er dem Rade die zu schleifende Glasfläche zu; die Arme beständig unbeweglich, stellt er durch Drehen und Wenden des Glases in der Hand die gewünschten Schliffe her, wobei die Glaswand oft um die Hälfte verdünnt wird.“ [38] Diese Arbeit galt als schwer und ungesund, zumal, wenn sie ohne Schutzbrille durchgeführt wurde. Augenkrankheiten, etwa grauer Star, waren nicht selten, ebenso Rheumatismus. Die Überbeanspruchung der Unterarme führte häufig zu Auswölbungen, einer Art Schleimbeutel an der Innenseite des Unterarms. Zudem bewirkte der feine Staub vielfältige Atemwegserkrankungen und Spitzenwerte bei Tuberkulosefällen. Die feinen Glassplitter schädigten aber auch die Hände, die Einfallspforten für Entzündungen vielfältiger Art wurden.
Auch die Glasschmelzer waren besonderen Risiken ausgesetzt. Um 1900 dauerte die Durchmengung der für die Glasproduktion erforderlichen Rohmaterialien etwa anderthalb Stunden – mit entsprechender Staubentwicklung und hohen Tuberkulosewerten. Die Unfallhäufigkeit war hoch, ebenso die Zahl der Verbrennungen. Die Schmelzer hantierten zudem ständig mit Glasscherben, die es zu sortieren und dem Gemenge hinzuzufügen galt. Schwermetalle, wie Blei, waren toxisch, Schnittwunden und Entzündungen eine regelmäße Begleiterscheinung. [39]
Was tun gegen diese Gefährdungen der Arbeit und damit auch der Gesundheit und des Lebens der Glasarbeiter? Die Experten gaben darauf eine doppelte Antwort. Im Vordergrund stand das wachsende Arsenal der Arbeitsschutzmaßnahmen. Die Antwort eines bürgerlichen Nationalökonomen setzte schon in den späten 1880er Jahren die Zielrichtung: „Alle diejenigen, welche in stark mit Staub geschwängerten Räumen arbeiten müssen (Pocher, Hafenmacher, Glasschleifer und Glasschneider), sollten durch Polizeiverordnung gezwungen werden, nur mit Respiratoren oder angefeuchteten Schwämmen zu arbeiten, die nach Bedürfnis zu reinigen bezw. zu erneuern sind. Auch dürfte sich für solche Staubarbeiter eine leichte, zum schnellen Überwerfen eingerichtete Arbeitskleidung, die auch den Kopf schützt und täglich in geeigneter Weise gereinigt wird, empfehlen. Bei den Glasschleifern und Glasschneidern ist außerdem die Festsetzung eines Minimal-Luftraumes und eine Verbesserung der Apparate dringend notwendig, um eine gesunde Körperhaltung zu ermöglichen.“ [40] Der Staat sollte also zugunsten der Gesundheit der Glasarbeiter einschreiten und Mindeststandards auch gegen unternehmerischen Widerstand durchsetzen. Verbote von Nacht- und Sonntagsarbeit galten ebenfalls als Garanten für ein gesunderes Leben der Glasarbeiter. Der Staat handelte, regelte einiges in der Gewerbeordnungsnovelle von 1891 und der Verordnung über die Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern in Glashütten vom 11. März 1892. Einschränkungen der ohnehin nicht wichtigen Frauenarbeit, vor allem aber ein Verbot der Kinderarbeit waren die wichtigsten Folgen, durften Glashütten doch zuvor Zwölf- und Dreizehnjährige beschäftigen. All dies milderte die Gesundheitsgefährdungen, führte jedoch nicht zu grundlegenden Verbesserungen des Arbeitsumfeldes. Es war nicht zuletzt die Halbherzigkeit staatlicher Maßnahmen im Gesundheitsschutz, die Gewerkschaften zum Streiter für ein besseres Leben werden ließ. Denn der Staat übernahm ab Mitte der 1890er Jahre häufig Unternehmerpositionen, etwa bei der Frage der Nachtarbeit von Jugendlichen, die bis Ende des Kaiserreiches 1918/19 immer wieder genehmigt wurde. [41]
Abseits des Arbeitsschutzes setzten Gewerkschaften, Gewerbeaufsichtsbeamte und Arbeitsmediziner unisono auf bessere, weil zugleich gesündere Technik. Der vermehrte Einsatz von Maschinen sollte die Handarbeit reduzieren – und damit auch die damit verbundenen Gesundheitsgefährdungen. Großbetriebe konnten dies leisten, konnten die Kosten effizienten Gesundheitsschutzes auch zahlen. Ihre Produktionsstätten konnten großzügiger ausgestaltet sein, die gesundheitsgefährdende Enge etwa der beiden Boffzener Glashütten durchbrechen. Auch eine weitergehende Spezialisierung schien ein Ansatz, um Reinlichkeit und das Arbeitsumfeld in den Betrieben zu verbessern. Der Großbetrieb schien es gar möglich zu machen, mittels Dreischichtbetrieb den Acht-Stunden-Tag einzuführen. [42] Insgesamt dürfte dieser Wandel der Unternehmen viele Gesundheitsrisiken indirekt vermindert haben.
Die praktischen Schwierigkeiten eines hygienischeren Arbeitsumfeldes waren dennoch erheblich. Das zeigte sich schon an den fast durchweg defizitären sanitären Anlagen. Toiletten hatten meist keine Wasserspülung, waren unbeheizt und befanden sich in Nebengebäuden. Bäder fehlten fast gänzlich, auch wenn einzelne Großbetriebe erste Brausebäder eingerichtet hatten. Umziehräume waren seltene Ausnahmen. Die Glasarbeiter konnten sich also nicht waschen, brachten den Arbeitsstaub hin zu ihren Familien. Dies war nicht zuletzt in Boffzen ein langwieriges Problem. Bei Noelle & von Campe bedurfte es des energischen Drängens sowohl des betrieblichen Vertrauensrates, der Deutschen Arbeitsfront und der Gewerbeaufsicht, ehe zufriedenstellende sanitäre Anlagen in den frühen 1940er Jahren schließlich eingerichtet wurden. [43] Die Unternehmen setzten eben nicht auf Prävention, sondern auf die nachträgliche Kompensation eines strukturell gesundheitsgefährdenden Umfeldes. Beispiel hierfür ist die 1903 gegründete Carl-Becker-Stiftung, die im Folgejahr ein Sechs-Familien-Haus als Unterkunft für invalide Glasmacher erbaute. [44] Derartige betriebliche Sozialpolitik mochte die Folgen von Arbeitsunfällen und Krankheiten mildern, war jedoch kein Ersatz für einen Arbeitsschutz auf Höhe der jeweiligen Zeit.
Das 1904 erbaute frühere Invalidenhaus in Boffzen im Jahre 2015 (Foto: Stefanie Waske)
Dass dies möglich war, ein Wandel so lange gedauert hat, lag allerdings nicht nur an den (kurzfristigen) Kostenerwägungen der Unternehmen. All dies war auch Folge des seitens der Gewerkschaften wieder und wieder kritisierten „unverständigen Branchenstolzes in den eigenen Reihen der Arbeitsgenossen“. [45] Eklatante Defizite im Gesundheitsschutz wurden lange Zeit hingenommen, galten sie doch als „normal“, als Teil der tradierten Arbeitswelt einer Handwerkerelite. Zu dieser alten Normalität gehörte auch eine – aus heutiger Sicht – geringe Achtung der eigenen Gesundheit, der eigenen Wohlfahrt.
Die Glasarbeiter lebten um 1900 in einer vielfach paradox anmutenden Lage. Ihr Leben war prekär und auskömmlich, galt als gediegen und war stets elementar gefährdet. Vielleicht sind „wir“ zu fern, um dieses Paradoxon zu verstehen; durch unseren Wohlstand, unsere Bildung, unser Wissen um die Fülle der Welt. Die Glasarbeiter standen um 1900 im Übergang von einer tradierten Welt der Enge und des Handwerkes hin zu unserer Welt mit ihren so anderen, vielfach aber doch ähnlichen Paradoxien und Verwerfungen.
Uwe Spiekermann, 28. Oktober 2020
Anmerkungen [1] Wilhelm Hannich, Die Lebenshaltung der Glasarbeiter im Gablonzer und den angrenzenden Industriebezirken Nordböhmens, Arbeiterschutz 24, 1913, 215-217, hier 215. [2] Angaben n. Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 40 Neu 10 Fb. 5 Nr. 70. [3] Angaben und Zitate n. Acten des Herzoglichen Amtsgerichts Holzminden die Vormundschaft für die minorennen Kinder weil. Glasmachers Heinrich Kleine in Boffzen, Glashütte Georgshütte, betr. (Niedersächsisches Landesarchiv Wolfenbüttel, 40 Neu 10 Fb. 5 Nr. 68). [4] Johannes Laufer, Von der Glasmanufaktur zum Industrieunternehmen. Die Deutsche Spiegelglas AG (1830-1955), Stuttgart 1997, 181. [5] Carl Kindermann, Zur organischen Güterverteilung, Bd. II: Die Glasarbeiter Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer allgemeinen materiellen Lage, Leipzig 1896, 195-206, 294-295. [6] Robert Großmann, Die technische Entwicklung der Glasindustrie in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung, Leipzig 1908, 18. Detailliert zur Ofentechnik: E[mil] Tscheuschner, Handbuch der Glasfabrikation nach allen ihren Haupt- und Nebenzweigen, 5. neu bearb. Aufl., Weimar 1885, 218-292; Robert Dralle, Anlage und Betrieb der Glasfabriken mit besonderer Berücksichtigung der Hohlglasfabrikation, Leipzig 1886, 2-261. [7] Großmann, 1908, 2. [8] Laufer, 1997, 183. [9] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Lohnbuch Becker 1888-1898, 52-53. [10] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Lohnbuch Becker 1888-1898, 91-96. [11] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Lohnbuch Becker 1888-1898, 96-100. [12] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Krankenkassenbuch Becker 1898-1901, s.p. [13] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Lohnbuch Becker 1888-1898, 96-100, 162. [14] Max Eugen Noelle, Geschichte der Brückfelder Glashütte (Ms.). [15] Laufer, 1997, 189. [16] Gustav Lange, Die Glasindustrie im Hirschberger Thale. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Schlesiens, Leipzig 1889, 102. [17] Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, 2. durchges. Aufl., Bonn 1981, 296. [18] Gerhard Henke-Bockschatz, Glashüttenarbeiter in der Zeit der Frühindustrialisierung, Hannover 1993 sowie Laufer, 1997, insb. 168-172. [19] Gemeindearchiv Samtgemeinde Boffzen, Krankenkassenbuch Becker 1898-1901, s.p. [20] Lange, 1889, 65. [21] H[ubert] Post, Untersuchungen über den Umfang der Erwerbslosigkeit innerhalb der einzelnen Berufe und Berufsgruppen, Leipzig 1914, 23. [22] Georg Horn, Die Geschichte der Glasindustrie und ihrer Arbeiter. Soziale Studie aus historischen und authentischen Quellen dargestellt, Stuttgart 1903, 227 und 279. [23] Paul Helferich, Die Glasindustrie, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber und Friedrich Wieser, 4. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 7, Jena 1926, 1008-1013, hier 1012. [24] Karl H. Schneider, Schaumburg in der Industrialisierung, T. 2: Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg, Melle 1995; Horn 1903, 478. [25] K. Hauck, Die Gesundheitsverhältnisse der Glasmacher, Concordia 17, 1910, 350-355, 382-387, hier 352. [26] Lange, 1889, 68. [27] H. Schaefer, Die Gewerbekrankheiten der Glasarbeiter, Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 26, 1894, 273-291, hier 279. [28] Hauck, 1910, 386. [29] Theodor Sommerfeld, Handbuch der Gewerbekrankheiten, Bd. 1, Berlin 1898, 257-258. [30] Theodor Sommerfeld, Die Schwindsucht der Arbeiter, ihre Ursachen, Häufigkeit und Verhütung, Berlin 1895, 28. [31] Schaefer, 1894, 277. [32] Sommerfeld, 1898, 265. [33] Th[eodor] Sommerfeld, Industrie der Steine und Erden. Glas- und keramische Industrie, in: Heinrich Albrecht (Hg.), Handbuch der praktischen Gewerbehygiene mit besonderer Berücksichtigung der Unfallverhütung, Berlin 1896, 801-836, hier 814. [34] Die sanitären Verhältnisse der Arbeiter in den Glasfabriken, Die Neue Zeit 13, 1894/95, Bd. 2, 245-248, hier 248. [35] Hauck, 1910, 386. [36] Sommerfeld, 1898, 257-258. [37] Schaefer, 1894, 279. [38] H. Schaefer, Hygiene der Glasarbeiter und Spiegelbeleger, in: Th[eodor] Weyl (Hg.), Handbuch der Hygiene, Bd. 8: Gewerbehygiene, Jena 1897, 967-997, hier 973. [39] Sommerfeld, 1895, 27; Schaefer, 1897, 97; Sommerfeld, 1896, 815. [40] Lange, 1889, 107. Ähnlich Verhältnisse, 1894/95. [41] Paul Umbreit, Dringender Arbeiterschutz in der Glasindustrie, Sozialistische Monatshefte 18, 1912, 1561-1564. [42] Großmann, 1908, 99-101. [43] Protokollbuch über Vertrauensratssitzungen, Noelle & von Campe, 1937-1947, passim. [44] Acta, den Bauantrag der Stiftung des Fabrikbesitzers Karl Becker in Boffzen betreffend (1904), Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen. [45] Horn, 1903, 478.