Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts griff die Industrialisierung zunehmend auch auf das Land aus, veränderte die soziale Zusammensetzung und das Erscheinungsbild vieler Klein- und Mittelstädte. Boffzen war bis dahin ein bäuerlich und handwerklich geprägter Ort gewesen, doch die Errichtung von gleich zwei Glashütten – 1866 die spätere Firma Noelle & von Campe, 1870 die Georgshütte G. Becker – änderte die lokalen Lebenszuschnitte grundlegend. Glasarbeiter und Unternehmer repräsentierten die entstehende Klassengesellschaft, mochten sich erstere auch vielfach noch als Handwerker oder gar Glaskünstler verstehen und sich letztere durchaus in die bis in die frühe Neuzeit zurückreichenden Strukturen einer regionalen Handels- und Gewerbeelite einreihen. Die Entstehung der Glashütten im Brückfeld führte zudem zu neuen, im Gegensatz zum historischen Boffzen stehenden Bauten. Da waren erst einmal die Fabriken selbst, Stätten der Feuerarbeit, Zentren von Rohstoffzufuhr und Warenproduktion, gesundheitsgefährdende Großräume zuvor nicht bekannten Ausmaßes. Da waren aber auch Wohnungen für die Arbeiter, von Beginn an von den Hüttenbesitzern geplant und gebaut. Und da waren schließlich die Villen für die lokalen Unternehmer, die Familien Noelle, von Campe und Becker.

Westfassade und Nebengebäude der Villa Noelle (heute Seniorenheim Parkschlösschen) (2020) (Foto: Uwe Spiekermann)
Fabrik, Arbeiterwohnungen und Unternehmervillen waren neue Bautypen, klar unterscheidbar von den Gehöften der Handwerker und Gesellen, der Bauern und der Köter. Dort herrschte der tradierte Fachwerk- und Holzbau vor, wurde erst langsam durch Stein- und Massivbauten ergänzt. [1] Leben und Arbeit waren noch nicht getrennt, Vieh und Mensch lebten nah beisammen, mit dem wenigen vorhandenen Gesinde und Einliegern teilte man ein Dach. Heizung erfolgte an einem Platz, die Fenster waren klein, die Tür ein Tor. Das war bewährt, war Besitz, auch daher ansprechender als die ersten Ein-, Zwei-Zimmerwohnungen in den Arbeiterwohnungen der Hütten. Die Unternehmervillen waren aber etwas anderes, Ausdruck neu erworbenen Reichtums, Ausdruck eines anderen „privaten“ Lebens in und doch neben der Kleinstadt, dem Industriedorf. Blicken wir also genauer hin.
Was ist eine Unternehmervilla?
Das moderne Bürgertum entstand im späten 18. Jahrhundert, verstand sich als Leistungs- und Bildungselite abseits des Adels, des städtischen Pöbels, der Bauern und des sich langsam erst entwickelnden Arbeiterstandes. [2] Tüchtige Beamte, freie Berufe, zunehmend aber auch wagemutige Investoren prägten das Bild, allesamt verbunden durch die Tradition aufgeklärten Denkens und die Sehnsucht nach einer idealisierten Antike. [3] Rom stand dabei für eine frühe Adelsrepublik, stand aber auch für einen gehobenen patrizischen Lebensstil, der seinen Ort nicht zuletzt in den Villen der politischen und gesellschaftlichen Elite fand. Die Renaissance hatte diese Tradition fortgeführt, die englischen Landvillen sie im 18. Jahrhundert neu belebt.
Es verwundert daher nicht, dass wohlhabende, meist aus dem Handels- und Bankensektor stammende Bürger diese Vorbilder aufgriffen und sich repräsentative Landhäuser auch abseits der noch überschaubaren Städte erbauten. Orientierte man sich dabei insbesondere am englischen Landadel, so setzte man doch zunehmend eigene Akzente, stellte eigene Bedürfnisse in den Vordergrund. [4] Diese richteten sich sowohl nach innen als auch nach außen. Einerseits schuf man großzügige Räume des Privaten, in denen man als Kleinfamilie mit Dienstboten die Werte der eigenen Schicht leben konnte. [5] Anderseits repräsentierte die Villa den Reichtum und den Anspruch der Bauherren. Unternehmervillen waren in Stein geronnene Herrschaftsansprüche. Das betraf erstens die gesellschaftliche Stellung des Wirtschaftsbürgertums, das mit zunehmender Industrialisierung und den damit verbundenen hohen Gewinnen anhob, Adel und Militär als führende Funktionseliten abzulösen. Zweitens war die Unternehmervilla ein wichtiges Element zur Abgrenzung gegenüber den Beschäftigten der eigenen Firma, unterstrich die eigene Tüchtigkeit und Entscheidungsfähigkeit, repräsentierte die Autorität des Besitzes und den Anspruch auf Gehorsam.

Regionales Vorbild: Die 1896 erbaute Höxteraner Villa des Fabrikanten Wilhelm Haarmann (2014) (Wikipedia)
Etwas anschaulicher? Nun, die Unternehmervilla war ein freistehendes, größeres Einfamilienhaus, „das in einer Garten- oder Parkanlage liegt und die Distanz zur Außenwelt schafft. Neben der Familie sind im Haus oder in einem Nebengebäude dauerhaft oder zeitweise die Dienstboten untergebracht. Hauptsächlich unterscheidet sich die Villa von anderen Wohngebäuden durch ihr Raumprogramm und dessen Anordnung sowie die Verteilung in den Geschossen. Üblicherweise liegen die Repräsentationsräume, wie Herren-, Wohn-, Speisezimmer und Salon im Erdgeschoss über dem sich im Obergeschoss die Privaträume des Hausherren und seiner Familie befinden. Diesem Raumprogramm liegt eine Grundrissgestalt zugrunde, die bestimmte Elemente, wie beispielsweise Erker, Altan oder Veranda, als äußere Gliederungselemente erzwingt und somit auch ein bestimmtes Erscheinungsbild nach Außen fordert.“ [6] Die Unternehmervilla war ein exklusiver Bau, geprägt von vielgestaltigen Bauaufgaben: Ein Grundstück musste gefunden, Wohnhaus und Nebengebäude darauf angeordnet werden. Ställe und Garagen, Kutscher- und Maschinenhaus, Gewächshaus und Remisen – es gab viel zu bedenken. Und dann die Anordnung der Zimmer im Wohnhaus, ihre Ausstattung. Ähnliches galt für den Garten, kein Nutzgarten, sondern ein Pläsiergrund, ja, ein Park. Wichtig war schließlich noch die Einfriedung, die Trennung des behüteten Innenraumes von der drängenden Außenwelt. [7]

Die Villa als Schloss des Unternehmers: Villa Siemens am Stolper Loch in Wannsee (Illustrirte Frauen-Zeitung 22, 1895, 117)
Waren die Villen anfangs noch gediegen, so weiteten sie sich seit der Jahrhundertmitte, verstärkt aber seit der Gründerzeit nach Etablierung des Deutschen Reiches 1871. Der Adel stand vielfach Pate, die Villen glichen teils Schlössern. Freistehend, waren sie schon von weitem erkennbar, markierten Landschaft und Umgebung. Sie wurden von freien Architekten und Baumeistern geplant, die nicht allein technische, sondern vor allem kulturelle Ansprüche erfüllten. [8] Sie griffen zurück auf die Formsprache der Macht der Vergangenheit, stellten die Unternehmer damit in einen Herrschaftszusammenhang. Zahlreiche historisierende Fassaden und Formen waren die Folge, Renaissancebauten, Klassizismus, die „deutsche“ Gotik, mehr spielerische Rokokoformen, vor allem aber der klobig-ausladende, Solidität und Wohlstand repräsentierende Barock. Hinter den Fassaden herrschte trotz dieser äußerlichen Vielfalt ein einheitliches Raumkonzept. Im „Erdgeschoss die Gesellschaftsräume, darunter ein großer Speisesaal. Sie waren vom familiären Wohnbereich klar geschieden. Gleichfalls separiert wurden die Personal- und Wirtschaftsräume, in größeren Häusern sogar in einem eigenen Trakt samt Dienstbotentreppe. Der Trennung von öffentlicher und privater Sphäre diente auch das Herrenzimmer: Hierhin konnte sich der Hausherr zu wichtigen Gesprächen mit seinen leitenden Angestellten zurückziehen und geschäftliche Kontakte pflegen. Die großzügige Halle, oft mit mehrläufiger Treppe, diente als repräsentatives Entree. Sie wurde nicht selten mit Wandvertäfelungen, Marmorinkrustationen und Stukkaturen aufgewertet. Unverzichtbar waren der Wintergarten, ein Musik- oder Billardzimmer, Gästezimmer und moderne Bäder. Im Idealfall war die Villa des Großindustriellen der Ort, von dem aus er die Fäden des Unternehmens zog und wo zugleich das bürgerliche Familienideal gelebt wurde: repräsentativ, funktional und wohnlich.“ [9]

Dahlemer Pracht des Kommerzienrates Jakob Mandelbaum (Berliner Leben 16, 1913, Nr. 8, 14)
Zwei Punkte sind festzuhalten: Historisierende Fassaden und Inneneinrichtung dürfen erstens nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unternehmervillen technisch modern waren. Sie waren Trendsetter moderner Heizsysteme, von fließendem, gar warmem Wasser, von elektrischem Licht, von Telefon und allerlei Spielereien des elektrischen Zeitalters. Dazu konnten Kühlräume gehören, frühe Kühlschränke, gar Staubsauger. Effizienz im Betrieb und in der Villa gingen Hand in Hand, mochte die Haustechnik auch den Blicken der Gäste verborgen sein. Die Unternehmervillen unterschieden sich dadurch deutlich von den alten Gemäuern des Adels – wobei dieser im späten 19. Jahrhundert durchaus bauwütig war. Das Alte wurde mit Neuem verbunden, das unterschied den erfolgreichen Bürger vom verzopften Adel. Das war wahrer Luxus, ein Amalgam kulturellen und wirtschaftlichen Fortschritts.

Tradierte Verbindung von Arbeit und Privatleben: Warte- und Sprechzimmer im Erdgeschoss der zu Unrecht so benannten „Villa“ des Boffzener Arztes Karl August Friedrich Leusmann (1904) (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)
Zweitens gab es neben einigen hundert wirklich herausragender Bauten eine deutlich größere Zahl weniger luxuriöser Villen. [10] Im späten 19. Jahrhundert entstanden vielfältige und unterschiedlich gestaltete Villenviertel in den Wirtschaftszentren, in denen sich wahrlich gut leben ließ, abgeschottet von Kleinbürgern und Arbeitern. Auch Halbvillen konnte man kaufen, hier war der Park zum Garten mutiert. [11] Das war Teil des Erfolges bürgerlicher Existenz, den sich nun mehrere Prozent der Bevölkerung leisten konnten. Es war aber auch beredter Ausdruck der Klassengesellschaft, die zu einer zuvor nicht gekannten sozialräumlichen Segregation insbesondere in den Metropolen führte. [12] Das wurde im Bürgertum durchaus selbstkritisch wahrgenommen und war einer der Gründe für die um die Jahrhundertwende anschwellende Kritik an der Villa als solcher, der Unternehmervilla im Besonderen.

Familienwappen oberhalb des Eingangs zur Villa von Campe (2020) (Foto: Uwe Spiekermann)
Das betraf erst einmal den historisierenden Stil der Bauten. Der Architekt und spätere Mitbegründer des Deutschen Werkbundes Hermann Muthesius vermerkte 1905 mit bissigem Spott: „Wenn man heute unsere Vororte durchstreift, so findet man Häuser, an denen der ganze Motivenschatz eines Zeitalters angebracht ist. Giebelchen, Erkerchen, Türmchen drängen und schieben sich förmlich. Man sieht keine Wand, die nicht durch Risalite, Vorbauten und zurückspringende Teile unterbrochen wäre, und keinen Quadratmeter Fläche, der nicht irgend ein Dekorationsmotiv aufwiese. In dem Streben nach Wechsel sind am selben Bau alle Materialien herangeholt und verwendet, die der Baumarkt bietet, und im allgemeinen hat man den Eindruck einer großen Narretei. Es herrschen die Ideale des Maskenballs. Man hängt dem Haus tausend bunte Flicken und Fetzen an und freut sich desto mehr, je burlesker die Gesamterscheinung geworden ist. Wäre nicht jeder Mensch in den Moden seiner Zeit befangen, so würde man diese heutige deutsche Villa allgemein als die Ausgeburt der Lächerlichkeit empfinden.“ [13] Das Bürgertum war selbstkritisch geworden, wuchs über ein Zeitalter der Behaglichkeit und des wachsenden Wohlstandes hinaus. Der Kunsthistoriker Max Creutz verkündete 1906 eine neue Zeit, habe man doch gelernt, „daß die Ausdrucksformen alter Kulturen untergegangen sind mit den Menschen, die sie geschaffen, daß architektonische Formen im letzten Grunde identisch sind mit der Sprache lebendiger Menschen, die nur selbst erlebte Empfindungen und Anschauungen vermitteln können.“ [14] Historismus und Jugendstil endeten, neuere funktionale Bauformen traten hervor, Dekore dagegen zurück. Das veränderte nach der Jahrhundertwende gerade den Villenbau, der vielfach vorwegnahm, was nach dem Ersten Weltkrieg mit dem „Neuen Bauen“ radikalisiert wurde.
Das „traute Heim“ als Ideal bürgerliches Wohnens und Lebens
All diese Entwicklungen strahlten auch auf das Weserdorf Boffzen aus. Gewiss, dort bildete sich kein gesondertes gutbürgerliches Viertel heraus, denn dafür hatte es zu wenig Einwohner. Und doch ging die Gründung von Glashütten und Arbeiterwohnungen mit einer Trennung des Ortes einher, verkörperte Brückfeld doch die industrielle Moderne. Zugleich aber separierte sich kurz nach der Jahrhundertwende die unternehmerische Elite auch baulich von ihren Fabriken ab, trennte so Gewerbe und Arbeiterschaft vom wirtschaftsbürgerlichen Heim.

Noch in Nachbarschaft zur eigenen Glashütte: Villa Becker mit Park (2013) (Foto: Stefanie Waske)
Der Grund für dies war nicht allein Dünkel oder eine Abkehr vom Dreck und Lärm der Glasherstellung. Es ging vielmehr um bürgerliche Identität, also um ein Leben, das heutzutage für die Mehrzahl der Bevölkerung gilt und unser Wohnen im Grundsatz nach wie vor prägt. Das bürgerliche Heim schuf eine Grenze zur äußeren Welt mit ihrer Unruhe und Brutalität, war Schutzraum des Individuellen. Anders als im Handwerker- und Bauernhaushalt mit ihrer direkten Kopplung von Leben und Arbeit war es ein Ort, der erstens von der Güterproduktion, zweitens von der Hausarbeit getrennt war. Letztere wurde an Dienstboten übergeben, erst dadurch wurde die Hausfrau zur gebildeten bürgerlichen Frau. Das bürgerliche Heim repräsentierte Wohlstand, wurde entsprechend mit vielfältigen Konsum- und Kunstgütern bestückt. Es war ein Ort der Geselligkeit, des Treffens mit Gleichgesinnten und Gleichgestellten. Zugleich aber war es Ort von Freizeitaktivitäten, sei es des Lesens, Schreibens – man denke an Briefe –, der Hausmusik, der Gartenarbeit und vielerlei Passionen.

Standesgemäßeres Wohnen: Plan des 1914 angefügten Wintergartens der Villa von Campe (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)
Auch Unternehmervillen waren traute Heime. Doch zugleich waren sie Bühnen, denn Bürgertum musste zelebriert, musste im Alltag dargestellt werden. Die Villen waren deshalb geteilt. Die Privaträume befanden sich in einem anderen Stockwerk als die Schaubühne des Salons, der Herren- und Rauchzimmer. Der spielerische Charakter wurde durch einen hinführenden Eingang unterstrichen, mit vielfältigen Möbelstücken, Gemälden und ansprechenden Gegenständen ausgestattet. Das Gespräch, die Geselligkeit hatte damit seinen Ort, Garten und Park konnten diesen weiten, Veranda und Wintergärten boten Übergangsräume. Doch so spielerisch all dies war, so war es doch auch Ausdruck klarer Funktionszuweisungen, dem Erkennen des Gebotenen. Die Räume, allesamt, hatten nämlich klare Funktionen. Küche, Esszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Lagerraum, Dienstmädchenstube – diese Namen waren Gebote, das Leben im Hause folgte Regeln, die Zimmer gaben ihm Raum. Das spiegelte Erwartungen, auch die Kälte vieler von Konventionen geprägten Beziehungen, selbst zwischen Kindern und Eltern. Doch es ermöglichte Privatheit, eröffnete Rückzugsräume. [15] Hinzu kam vielfach ein Klavier, wenngleich nicht derart obligatorisch wie in Großbritannien und insbesondere den USA. Der Stilwirrwarr von Plüsch und Nippes, von Standuhr und Tapete galt dabei nicht als Ausdruck fehlenden Geschmacks, sondern zeigte im Gegenteil die Bewohner als souveräne Steuerleute in der Vielfalt historischer Stilformen. Das Wohnen abseits der hastenden, dynamischen Stadt, im Villenvorort, in der Landschaftsvilla oder auch einer Unternehmervilla im industriedörflichen Boffzen hatte dabei besondere Vorteile. Was dort in Hast erworben wurde, sollte auf dem Landsitz „in Ruhe genossen werden. Hier handelt es sich mehr um eine persönliche Art, die auch für den Menschen einige Zeit erübrigt. Im Zusammenhange mit Natur und Umgebung kommt dort die Stimmung wieder zu ihrem Rechte.“ [16]
Abgrenzung und Anreize zum Aufstieg – Villa versus Arbeiterwohnung
Die Unternehmervilla ist ohne die Arbeiterwohnung nicht denkbar. [17] Beide stellen Loslösungen von der vorindustriellen Denk- und Lebensform des „ganzen Hauses“ dar, also einer vor allem in der Landwirtschaft oder aber im Kleingewerbe bestehenden Arbeits- und Wohngemeinschaft von Meister und Gesellen, von Bauer und Knecht. In den frühen Fabriken konnten die Arbeiter schon aufgrund ihrer Zahl kaum mehr auf dem Betriebsgelände untergebracht werden, doch hausten sie zumeist in unmittelbarer Nähe, wenngleich nicht immer in eigener Wohnung, höchst selten im eigenen Haus. [18] Die Unternehmer blieben ihrem Betrieb räumlich nahe, vielfach errichteten sie ihr Wohnhaus auf gleichem Grund, zumindest aber in unmittelbarer Nähe. Dies drückte die Verbundenheit zum eigenen Geschäft aus, zugleich aber auch Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Geschehen; und dies war eine Anspruchshaltung auch gegenüber den eigenen Arbeitern und Bediensteten.
Die Unternehmer verstanden sich – durchaus im Sinne von ständischen Gesellschaftsmodellen der vorindustriellen Zeit – nicht nur als Arbeitgeber, die ihren Beschäftigten Geld schuldeten, nicht mehr. Sie waren ihnen, wie die Meister, wie die Bauern, immer auch „pater familias“, also gütiger und zugleich harter Vater. Loyalität wurde erwartet, zugleich aber sorgte er für seine Leute (und deren Familien), half auch abseits der Firma. Daraus entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein spezifisch paternalistischer Unternehmertypus, dessen Herr-im-Haus-Standpunkt höchst ambivalent zu bewerten ist. Er führte nicht allein zu intensiven und teils bis heute andauernden Kämpfen gegen das Koalitionsrecht der Arbeiter, also ihren Zusammenschluss in Gewerkschaften, deren Ziel – im gut liberalen Sinne – Verträge, Tarifverträge waren, die Rechte und Pflichten definierten und nicht einseitig gesetzt worden waren. Patriarchale Unternehmer glaubten nämlich, ihre Arbeiter genau zu kennen – so wie Eltern ihre Kinder. Dabei gingen sie von ihrer relativen Bedürfnislosigkeit aus, einer Existenz ohne umfassendere Bildung, ohne Hang zum Höheren, ohne bürgerliche Werte. Sie glaubten, ihre Arbeiter anleiten, gar erziehen zu können und müssen, sie auf den rechten Pfad zu lenken, sie vor Trunksucht und Verschwendung zu bewahren. Diese „Sozialdisziplinierung“ war vielfach wohlmeinend, konnte jedoch in brachiale Maßnahmen münden, erwiesen sich die Untergebenen als widerspenstig.

Arbeiterwohnungen der Georgshütte G. Becker von 1871: Serielle Behausungen (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)
Die frühen Werkswohnungen für Arbeiter erzählen daher immer auch etwas über die Gedankenwelt der Unternehmer und die von ihnen einseitig gesetzten Unterschiede zwischen Arbeiter und Bürger. Die eigene Villa war dann zugleich Vorschein einer auch jedem tüchtigen Arbeiter im Prinzip möglichen Aufwärtsentwicklung, war Materialisierung eines Aufstiegsversprechens. Das war offenkundig mehr Ideologie als reale Möglichkeit, stellt doch die Unternehmerschaft bis heute eine exklusive Gruppe dar. [19] Die Unternehmervilla verkörperte aber nicht nur Reichtum, sondern verklärte diesen auch moralisch. Sie war demnach Resultat von Strebsamkeit und Fleiß, von Urteilsfähigkeit und einem Blick weit hinaus über die Grenzen des eigenen Betriebes. Villen präsentierten Unternehmer zugleich als Menschen mit Bedürfnissen, kulturellen zumal. Sie waren Ausdruck eines Lebensentwurfes, dem sich die Arbeiter folgsam anschließen sollten. Die Unternehmensvillen bildeten schließlich abgeschlossene Orte, Räume mit Mauern, Zäunen, einem vorgelagerten offenen Bereich. Ein direkter Übergriff war schwierig, die Villa meist mehr als einen Steinwurf von der Umfriedung entfernt.
In Boffzen war dieser immanente Schutz jeder Unternehmensvilla nicht wirklich erforderlich – auch durch die hohe Akzeptanz eines paternalistischen Unternehmensstils. Die vor dem Ersten Weltkrieg erbauten Arbeiterwohnungen dokumentieren zugleich eine gewisse Verbürgerlichung der Glasarbeiter, insbesondere derjenigen, die eine Wohnung in der Arbeitersiedlung Steinbreite erhielten. Diese Häuser waren durchweg größer, hatten ein Raumprogramm, enthielten auch eine „gute Stube“ zum Empfang von Besuch. Sie waren Orte gediegenen Daseins, noch ausgerichtet auf die Arbeit der Hausfrau in Garten und Küche. Doch sie dienten schon der Erholung nach langer Arbeit. Die grundsätzliche Differenz zwischen Arbeitern und Unternehmern wurde dadurch wahrlich nicht beseitigt, gar noch unterstrichen. Doch diese Arbeiterhäuser im langen Schlagschatten der Unternehmervillen am zuvor unbebauten Hoppenberg verwiesen schon auf einen gewissen sozialen und wirtschaftlichen Kompromiss, der seit den 1950er Jahren Kennzeichen der Bundesrepublik Deutschland werden sollte.

Ansatzweise Verbürgerlichung des Arbeiterwohnungsbaus: Die gute Stube für Besuch, die Küche für das Familienleben – Haus von Wilhelm Böker, Steinbreite 13 (1909/10) (Kreisarchiv Holzminden, Bauakten Boffzen)
Während eine moderat wachsende Zahl von Arbeitern bürgerlicher wohnte, lief schon vor dem Ersten Weltkrieg die Ära der Unternehmervillen aus. Sie waren Kinder des 19. Jahrhunderts – und es verwundert daher nicht, dass in den drei Boffzener Unternehmervillen schon seit langem keine Familiennachfahren mehr wohnen. Die Bauform machte praktischeren Häusern und Wohnungen Platz, allesamt noch repräsentativ, doch keineswegs derart raumgreifend wie die alten Häuser. Andere Konsumgüter übernahmen deren repräsentative Aufgaben, Automobile, exklusive Reisen, vielfältiger Besitz an mannigfachen Orten. Die Gediegenheit und Großzügigkeit der in großer Zahl erhaltenen Unternehmervillen kündet dennoch bis heute von einer Zeit, in der das Bürgertum Fortschritt und Zukunftsideal repräsentierte.
Uwe Spiekermann, 31. Oktober 2020
Anmerkungen
[1] Matthias Seeliger, Boffzen. Alte Häuser erzählen, Horb a.N. 1990, insb. 5-15.
[2] Jürgen Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit im Wandel, Aus Politik und Zeitgeschichte 2008, Nr. 9/10, 3-9.
[3] Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, Köln, Weimar und Wien 2009, 26-43.
[4] Miriam Bilke-Perkams, Saarländische Unternehmervillen zwischen 1830 und 1914 – unter besonderer Betrachtung der Region des Saarkohlenwaldes, Saarbrücken 2013, 32-33.
[5] Manfred Hettling und Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert, Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, 333-359.
[6] Bilke-Perkams, 2013, 41-42.
[7] Barbara von Germersheim, Unternehmervillen der Kaiserzeit (1871-1914). Zitate traditioneller Architektur durch Träger des industriellen Fortschritts, München 1988, 11.
[8] Wolfgang Brönner, Die bürgerliche Villa in Deutschland 1830-1900, 3. Aufl., Worms 2007.
[9] Bettina Vaupel, Unser Reichtum gestattet es. Die Villen der Industriellen im Ruhrgebiet, Monumente-Online 2017, April-Nr. https://www.monumente-online.de/de/ausgaben/2017/2/Industriellen-Villen-Ruhrgebiet.php (Abruf 29.10.2020 (auch für das Folgende)).
[10] Thomas Weichel, Bürgerliche Villenkultur im 19. Jahrhundert, in: Dieter Hein und Andreas Schulz (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1986, 234-251.
[11] Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, insb. 138.
[12] Clemens Wischermann, Wohnen in Hamburg vor dem Ersten Weltkrieg, Münster 1983, 266-294.
[13] Hermann Muthesius, Die Bedingungen und die Anlage des modernen Landhauses, in: Das moderne Landhaus und seine innere Ausstattung, München 1905, I-XVI, hier IV.
[14] Max Creutz, Forderungen und Ergebnisse der modernen architektonischen Entwicklung, Berliner Architekturwelt 8, 1906, 279-282, hier 281.
[15] Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2009, 85-87 (auch für das Folgende).
[16] Creutz, 1906, 281.
[17] Hermann Sturm, Fabrikarchitektur, Villa, Arbeitersiedlung, München 1977.
[18] Sigrid Jacobeit und Wolfgang Jacobeit, Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes 1810-1900, Wien 1987, 244-277; Hans J. Teuteberg und Clemens Wischermann, Wohnalltag in Deutschland 1850-1914. Bilder – Daten – Dokumente, Münster 1985, 251-259.
[19] Werner Plumpe und Christian Reuber, Unternehmen und Wirtschaftsbürgertum im 20. Jahrhundert, in: Gunilla Budde, Eckart Conze und Cornelia Rauh (Hg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010, 151-164.